Am 05.01.2020 um 16:31 schrieb Ingo Tessmann:
Am 03.01.2020 um 19:35 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
Was kommt durch mathematische Formalisierung zum primitiven Zusammenhangswissen hinzu?
Als Laie vermute ich, daß die Instrumente universalisiert und geschärft werden. Man redet
nicht mehr von Blitz und Donner, sondern von Temperatur, Geschwindigkeit, Masse,
Stromstärke, es werden Naturkonstanten eingeführt und alle Zeichen sind im Gegensatz zu
denen der Umgangssprache genau definiert. Jetzt sind auch quantitative Prognosen (etwa der
Temperatur) möglich.
Ich bestreite nicht, daß das ein enormer zivilisatorischer Fortschritt ist. Die Dosis
macht das Gift und bei einer Naturkatastrophe möchte man nicht nur wissen, ob sie
stattfindet, sondern je mehr man im Detail prognostizieren kann, desto besser.
Von prinzipiell andersartiger Erkenntnis würde ich dennoch insofern nicht sprechen
wollen, als es bei der Rückbindung der Formeln an die Erfahrung bleiben muss, wenn sie
nicht nur Verhältnisse zwischen Zeichen festlegen sollen.
Statt "auf Blitz folgt Donner" heißt es dann im nächsten Schritt "auf
einen Blitz der Lichtstärke soundso folgt ein Donner der Lautstärke soundso" und im
übernächsten geht es dann um quantitative Zusammenhänge zwischen variablen Grössen. Man
kann durch die Durchforstung grosser Datenmengen mit Computern sicher einem bloss
zufälligen Zusammentreffen von Umständen leichter auf die Spur kommen. Letztlich geht es
aber nach wie vor darum, solche Korrelationen möglichst zuverlässig festzustellen und die
Feststellungen bleiben auf dem Prüfstand der Erfahrung. Dem "endlich verstehen
wir!" der Renaissanceforscher (das sich ja bei jeder wissenschaftlich-technischen
Revolution wiederholt) würde ich also entgegenhalten: nein, ihr könnt "nur"
(aber immerhin!) genauer hinsehen und genauere Prognosen machen.
Hi Claus,
Formalisierung macht Wissen erst beweisbar und deckt verborgene Zusammenhänge auf: Dass
beispielsweise die Kegelschnitte Lösungen des Gravitationsgesetzes sind, aus der
Verbindung von Elektrizität und Magnetismus die Existenz elektromagnetischer Wellen folgt,
aus der Verbindung von Analysis und Geometrie eine neue Gravitationstheorie entwickelt und
die Existenz von Gravitationswellen gefolgert werden kann, Elektromagnetismus und
Radioaktivität zur elektroschwachen WW vereinigbar sind, es Grade und Strukturvarianten in
den Wahrscheinlichkeiten und stochastischen Prozessen, dem Chaos und den Katastrophen
gibt, …
Aber auch reine Quantität, wie die Dosis in der Medizin oder das Temperaturmaß in der
Physik, deckt verborgene Zusammenhänge auf. Etwa bei der Wirkung von Ethanol auf den
Menschen, die von Heiterkeit über Enthemmtheit zu Betäubtheit, Blackout und Koma bis zum
Sterben reicht. Oder Temperaturänderungen, die zu Phasenübergängen führen können.
Hallo Ingo,
unter "Aufdeckung verborgener Zusammenhänge" würde ich mir (neben
computergestützter Schleppnetzfahndung in grossen Datenmengen)
analytische, deduktive Verfahren vorstellen, mit denen das vorhandene
Wissen systematisch bis zum letzten Tropfen ausgepresst wird, wobei die
Ergebnisse davon abhängen, wovon man ausgeht. Zu beweisen ist dann die
Korrektheit der Deduktion. Damit steht aber noch lange nicht fest, ob
die Theorie dem Realitätstest standhält.
Das (die Aufdeckung verborgener Zusammenhänge) fällt für mich unter
"Schärfung der Instrumente" und ist nicht gering zu schätzen, ändert
aber nichts an der Berechtigung der Frage, ob man versteht, wie es zu
einem Ereignis kommt, wenn man die erfahrungsgemässen Bedingungen seines
Eintretens angeben zu können meint, das aber zurücknehmen muss, falls es
doch nicht eintritt. Während ich eine Rechnung z.B. erst dann verstehe,
wenn ich weiß, wie ich das Ergebnis herausfinde und, falls ich etwas
anderes herausbekomme, nicht die Erklärung der Rechnung, sondern das
Resultat korrigiert wird. Das wäre, vermute ich, Humes Einwand gegen das
"endlich verstehen wir" der Renaissanceforscher gewesen. Rechentechniken
denken wir uns aus, Tatsachen müssen wir zur Kenntnis nehmen. Das ist
eigentlich alles, was ich sage. Durchaus mit Respekt für die Raffinesse
der Wissenschaften bei der Auswertung der Tatsachen.
"Endlich versehen wir“ beziehe ich dabei nicht auf die äußeren Erscheinungen,
sondern auf die inneren Strukturen. Was passiert eigentlich mit dem Ethanol im Menschen,
wie wirkt es sich insbesondere auf den Hirnstoffwechsel und unser Befinden aus? Und was
passiert beim Übergang eines Leiters zum Supraleiter, was beim Übergang eines Ferro- zum
Paramagneten?
Auch beim Gewitter geht es nicht bloß um Beziehungen zwischen variablen Größen, sondern
darum, die Strukturbildungen zu verstehen. Was macht eigentlich einen Blitz aus? Mit dem
Low Frequency Array LOFAR beispielsweise, einem dezentralen Radioteleskop, das aus
tausenden einfachen Antennen besteht, können nicht nur die Spuren kosmischer Strahlung
verfolgt, sondern auch detailliert die elektrischen Entladungen in Gewitterwolken
registriert werden. Aber zur Theorie kommen Strukturerweiterungen, zur Messpraxis
Modellrechnungen hinzu.
Der "Blick unter die Haube" also, in Verbindung mit der Schärfung der
Instrumente.
Natürlichem genügt das Weltall kaum, was künstlich ist
verlangt geschloss'nen Raum. Diesem Anspruch Goethes folgt ein Verstehen durch
Differenzierung und Zusammenschluss im Modell der Ebenen und Krisen. Und besonders
iInteressant sind die ebenensprengenden Krisen, die nicht durch Korrelationen gelöst
werden können, sondern nur durch Strukturerweiterungen.
Ebenso wie die Sprachentwicklung beim Menschen mit dem Handwerk einherging, beflügelten
sich auch Mathematik und Technik. Dem entspricht eine neue Entwicklungsstufe der
Menschheit. Nicht nur in den Natur-, sondern in allen Wissenschaften einschließlich der
Philosophie sollten die mathematischen Grundlagen vermittelt werden, damit nicht immer
mehr Menschen in der Entwicklung hinterherhinken.
Es grüßt,
Ingo
Ich stelle fest, daß ich mich nur noch wiederhole. Aus meiner Sicht
könnten wir hier abbrechen. Falls du noch weiteren Diskussionsbedarf
siehst, natürlich nicht.
Claus