Hi Rat Frag,
bevor ich auf einzelne Fragen eingehe, will ich mein Anliegen erläutern. Mit geht es beim
„Argumentieren“ nicht bloß um Meinungsaustausch, sondern um Einverständnis. Paul Lorenzen
hat einmal von „freier Monodoxie“ gesprochen im Gegensatz zu erzwungener Monodoxie und
freier oder erzwungener Polydoxie. Die Mathematiker sind seit nunmehr 6000 Jahren auf dem
Weg zu einer „freien Monodoxie“ weit vorangekommen. Und die Physiker eiferten ihnen
erfolgreich nach. Zählen und Folgern, Messen und Experimentieren werden durch Konsistenz
und Reproduzierbarkeit möglich, ansonsten haben wir Beliebigkeit und Zufälligkeit, die
nicht nachvollziehbar und überprüfbar sind.
Mehr als in der Mathematik und den quantitativen Experimentalwissenschaften seit
Jahrtausenden praktiziert wird, brauchen wir nicht, um das Argumentieren zur Herstellung
von Einverständnis in Freiheit zu lernen. Insofern suche ich über Konsistenz und
Reproduzierbarkeit hinaus keine weiteren Regeln. Die monotone Zunahme von Anzahl und
Genauigkeit der Parameter in der Technik und Experimentalwissenschaft spricht für sich.
Am 09.12.2017 um 17:05 schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 4. Dezember 2017 um 10:29 schrieb Ingo Tessmann via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Unabhängig von den wechselnden Interpretationen
gibt es den Anspruch auf Reproduzierbarkeit phys. Experimente. Die
reproduzierbar gemessene Fallbeschleunigung ändert sich nicht durch das Gerede darüber.
Das Gebot der Reproduzierbarkeit ist aber eben wieder eine "Regel der
Argumentation".
Nur eben eine sehr spezielle Regel, die besagt, "wenn du
wissenschaftlich argumentieren willst, dann X". Will ich das denn?
Ob Du das willst, weiß ich nicht, aber mir geht es beim Argumentieren nicht nur um
Meinungsaustausch.
Mir schwebt in der Tat ein stufenweises Vorgehen
vor. Die Argumentationen der Mathematiker bilden ja auch das Vorbild für Physiker.
Meinst du das historisch, konkret oder vorschreibend?
Da das Messen und Experimentieren, zählen und folgern voraussetzt, meine ich das sowohl
historisch als auch konkret und vorschreibend.
Damit ist zumindest gezeigt, dass Argumentationen
formal funktionieren können;
Wann funkionieren Diskussionen?
Wenn sich die Teilnehmer am Ende einigen können? Wenn die Ergebnisse
der Diskussion gewissen Kritierien genügen?
Wenn ja, wer legt diese Kriterien fest?
Die Wissenschaft schafft Wissen, das stimmen sollte. Das ist die einzige Voraussetzung.
Erreicht wird das durch Konsistenz und Reproduzierbarkeit mit der Folge funktionierender
Technik und wahrscheinlicher Prognosen.
denn in der Demokratie geht es ebenfalls nur um
die Form: was zählt, ist die Mehrheit, wofür auch immer.
Das stimmt nur eingeschränkt.
Tatsächlich gibt es grade in unserer modernen Demokratie
Einschränkungen auch der Mehrheitsmeinung. Umgekehrt gab es z B. bei
den Griechen eine völlig andere Form der Demokratie.
Demokratien unterfallen Varianten der „freien Polydoxie“. Es geht in der Regel lediglich
um Meinungsaustausch, der willkürlich durch Mehrheits- oder Machtentscheidungen
abgebrochen wird.
Also warum beim Argumentieren wieder von vorne
anfangen, wenn es Wissenschaften gibt, die zum
Vorbild taugen und weltweit in kritischer Eintracht miteinander auskommen?
Daraus gibt es wiederum verschiedene Probleme, die dir offenbar gar
nicht bewusst sind.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Wissenschaften vorbildlich in
Sachen denken sind (eine Annahme, die ich vielleicht teilen würde),
dann ergeben sich eine Reihe von Fragen:
-> Wie geht Wissenschaft vor?
-> Gehen "die Wissenschaften" gleich vor? Z. B. der Historiker genauso
wie der Astronom und dieser wie der Biologe?
-> Haben die Wissenschaften ihre Vorgehensweise nicht etwa geändert?
Wenn ja, könnten sie sich dann nicht auch wieder verändern?
Dass wissenschaftliche Sätze beweisbar sein und Technik funktionieren sollte, ist
beibehalten und stets verbessert worden. Wie Wissenschaftler vorgehen steht in ihren
Lehrbüchern. Im Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie z.B. entwickelt Lorenzen
über die Anfänge des mathematischen und technischen Wissens hinaus auch die des
historischen und politischen Wissens. Und in seinem Lehrbuch „Differential und Integral“
beweist er den klassischen Satzbestand der Analysis. In der Wissenschaftstheorie wird
natürlich nicht so streng argumentiert wie in der Analysis bewiesen wird.
Der Beweisstil Grothendiecks war es
beispielsweise, das jeweilige Abstraktionsniveau möglichst
so gut zu treffen, dass sich die Theoreme gleichsam wie von selbst ergeben. In der
Physik wird seit Einstein ähnlich vorgegangen.
Die Beschreibung verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. Worauf willst
du hinaus?
Wenn Argumentationen stecken oder Fragen offen bleiben, kann es hilfreich sein, "aus
dem Rahmen zu fallen“, wie Einstein z.B. die Graviationstheorie verbessern konnte, indem
er eine Invarianzforderung verallgemeinerte. Und Grothendieck hat nicht mehr in „Mengen“,
sondern in „Kategorien“ gedacht und z.B. in der Kategorie „Schema“ einen Raum nicht mehr
durch seine Punkte, sondern durch die Funktionen auf ihm untersucht.
In Alltagssituationen wird ja so häufig aneinander vorbei geredet, weil sich die
Teilnehmer zuvor nicht auf einen gemeinsamen Rahmen geeinigt haben. Die Mathematiker
machen vor, wie man es besser macht: Definition, Satz, Beweis bzw. Worum geht es? Wie
verhält es sich damit? Warum ist das so?
Es grüßt,
Ingo
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