Zweiter Versuch.
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Datum: 14. Oktober 2016 um 10:46
Betreff: Im Namen der Wahrheit lügen?
An: Philosophisches Diskussionsforum
Hallo liebe Liste,
da erfahrungsgemäß die Liste in den kalte Monaten wieder etwas
lebhafter wird, habe ich mir gedacht, dies als "selbsterfüllende
Prophezeihung" mal selbst zu verursachen. Das Gedankenspiel, das ich
dafür gewählt habe, ist zwar so originell nicht und seit Aristoteles
haben sich zahllose Denker damit auseinandergesetzt, aber meines
Erachtens regt es immer wieder zum Nachdenken an.
Folgende Überlegung:
1. Es gibt zwei Personen, nennen wir sie A und B. Beide haben ein
ehrliches Interesse an der Wahrheit und wissen auch jeweils vom
anderen, dass er dieses Interesse teilt. Das heißt, sie würden eine
Behauptung a nicht nur für richtig halten, weil es ihnen in den Kram
passt, sondern weil sie dafür gute Gründe vorzuweisen haben.
2. A weiß etwas, von dem B keine Ahnung hat. Nennen wir dieses Wissen x.
3. Zudem hat A sehr überzeugende Gründe dafür, dass B, wenn er von x
wüsste, zu einer Schlussfolgerung y kommen würde.
4. Die Schlussfolgerung y, das glaubt A, ist falsch und wird B auf
eine falsche Fährte locken.
Eventuell würde er sich dann zu schnell eine abschließende Meinung
bilden und nie zur korrekten Ansicht z kommen.
(Als praktisches Beispiel für diese Situation kann sich jetzt jeder
selbst einen Agententhriller, Krimi, eine Science-Fiction-Geschichte,
einen Bekehrungsversuch im weitesten Sinne oder einen Liebesfilm
denken.)
Wäre in dieser Situation der A berechtigt, den B anzulügen? Oder darf
A allenfalls schweigen?
Auf den ersten Blick scheinen die beiden Alternativen ähnliche
Fallstricke zu beinhalten. Indem A wesentliche Informationen vor B
verbirgt, lenkt er seine Schlussfolgerungen. Das bedeutet, er sieht B
in dem Augenblick nicht "auf Augenhöhe", als selbstdenkendes,
urteilsfähiges Subjekt, sondern eher als jemand, "für den mitgedacht
werden muss", damit er nicht auf falsche Gedanken kommt.
Kurzum, so könnte man es salbungsvoll ausdrücken, widerspricht A damit
Bs Würde. (Natürlich vorausgesetzt, dass A und B selbstdenkende,
urteilsfähige Subjekte sind und dass also sowas in Wirklichkeit
überhaupt existiert und davon die Würde abhängt. Es gab und gibt ja
genug Meinungsträger, die mit diese Prämissen ihre Probleme hätten,
wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen.)
Das mag etwas hoch gegriffen sein, dennoch haben wir es hier unleugbar
mit einer Bevormundung zu tun. Die Informationen sind insofern
wesentlich, als sie Bs Meinung lenken, ob er y glaubt oder nicht.
Nun könnte ein klassischer Rationalist die Situation folgendermaßen
auflösen wollen:
A selbst ist genauso an der Wahrheit interessiert wie B. Wenn A nun x
weiß und z für richtig hält, dann muss er dafür einen Grund haben. Das
bedeutet, es muss zwischen A und B schon ein Dissens bestehen. Den
könnte man doch vorher auflösen, bevor man B in das Geheimnis x
einweiht?
Es gibt nun Situationen, in denen man über eine Idee länger nachdenken
muss, damit sie plausibel erscheint, selbst wenn man sowas wie
Intuition mal ausschließt, gibt es selbst unter rationalen Menschen
manchmal Widersprüche, die sich aus unterschiedlichen
Lebenserfahrungen, Prägungen oder Interessen ergeben.
Grade die Geschichte der Wissenschaft und Philosophie beweist doch,
dass auch Menschen, die sich vornehmen etwas rein unter
Vernunftgesichtspunkten zu betrachten, immer wieder zu
unterschiedlichen Auffassungen kommen.
Der Moralist würde wohl einwenden, dass es einerseits nicht As Schuld
ist, wenn B aufgrund von x zu falschen Schlüssen kommt, andererseits
aber A das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Personen stark
belastet, wenn er ihn x wissentlich vorenthält, damit er nicht auf y
kommt.
B könnte nämlich zur Überzeugung kommen, dass A ein Interesse daran
hat, B in Unklarheit über y zu lassen. Der Moralist würde also klar
für Ehrlichkeit plädieren.
Nur so können die beiden sich auch in Zukunft noch vertrauen.
Arthur Schopenhauer weist im Vorwort zu seiner Eristische Dialektik
darauf hin, dass es tatsächlich solche Situationen gibt, in denen man
die besten Argumente für seine Position entweder nicht kennt oder
grade nicht präsent hat.
Daher empfiehlt er in solchen Situationen funktionsfähige
Scheinargumente (solche, die erfahrungsgemäß zumindest die Zuschauer
überzeugen, aber eigentlich die Diskussion nicht voranbringen)
anzuwenden, um als Sieger hervorzugehen. Auch wenn Schopenhauer selbst
sich später davon distanziert hat, so muss man doch feststellen, dass
diesem Ansatz bis heute viele Diskussionsteilnehmer folgen.
Die Frage ist, würde dieser Ansatz uns Unehrlichkeit empfehlen?
Wahrscheinlich würde er uns davon abraten, die besten Argumente gegen
unsere Ansicht selbst zu liefern. Andererseits würde er heftig vom
Lügen abraten, weil die Gefahr besteht, dass diese herauskommt.
Wie sieht die Liste das?