Am 22.10.22 um 15:21 schrieb Arnold Schiller über PhilWeb:
Den Begriff gibt es so in der öffentlichen Diskussion
nicht. In der
Musik steht die Dissonanz für „auflösungsbedürftige“
Tonkombinationen.
In der Psychologie ist die Dissonanz ein Widerspruch von Entscheidung
und Wahrnehmung und die daraus folgende innere Spannung. Im übertragenen
Sinne ist eine soziale Dissonanz also Unstimmigkeiten in Gruppen oder
Gesellschaftsschichten.
Es besteht sehr viel Klärungsbedarf dazu, ob das Einbringen des
genannten Wortpaares eine höhere Erkenntnis bringt, und wie es sonst
nutzen kann. Ich habe nichts dagegen, aber das kann nicht aus einem
Schweigen oder gar einer Mystik heraus erfolgen, das hast du richtig
geschrieben.
Du bemerkst auch, dass es das genannte Wortpaar "nicht in der
öffentlichen Diskussion gibt". Das zu erkennen ist völlig richtig. Nun
zitiere ich aus der Doktorarbeit, die durchaus zum Wissen beiträgt:
"Bei der Verwendung steht einem ein Phrasem mit seiner phraseologischen
Bedeutung zur Verfügung, so dass man nicht an die Bedeutung von
einzelnen Komponenten des Phrasems zu denken braucht (Burger 2015:16)."
Das ist beim genannten Wortpaar nicht bzw. noch nicht der Fall. Es
braucht also jemanden, der dieses Wort in die Sprache hinein bringt.
Oder eben es kommt eine Fernsehsendung ins Programm, berichtet
Unbekanntes Neues und das neue Wortpaar wird damit verbunden. Ab dann
können es viele benutzen, und es kann ein Phrasem werden. Ganz einfach
weil es ziemlich genau auf etwas hinweist.
Das Wortpaar "soziale Dissonanz" ist noch kein Phrasem, wo hingegen das
Wortpaar "kognitive Dissonanz" ein Phrasem ist, obwohl es nicht vielen
bekannt ist.
Wenn ich nun schaue, wo du Verwendungen des genannten Wortpaares
gefunden hast, so sehe ich an den zwei Stellen verschiedene Bedeutungen.
Diese sind kaum untereinander oder mit der von dir vorgeschlagenen
Bedeutung kompatibel.
Hier ist zuerst deine zweite Fundstelle zitiert:
"Aus dieser historischen Beschreibung ergibt sich der Gegensatz der
guten Natur und
des Zusammenlebens der Menschen in Gesellschaft. Im Glaubensbekenntis
des savoyischen
Vikars wird dieser Gegensatz nicht zufällig mit Metaphern der Musik
beschrieben:
„Le tableau de la nature ne m’offroit qu’harmonie & proportions, celui
du genre
humain ne m’offre que confusion, désordre! Le concert règne entre les
élémens, & les
hommes sont dans le chaos!” (O.C. IV/S. 583).
„Chaos“ ist soziale Dissonanz, die verhindert, dass Zusammenleben eine
Ordnung
erhält, die mit der Natur des Menschen verträglich wäre. Ursprünglich
war ein geordnetes
Zusammenleben gar nicht nötig, weil die Menschen autark waren und sich
selbst unterhalten
konnten oder mussten."
(Jean-Jacques Rousseau bezieht sich in seinen Schriften auf diesen
savoyischen Vikar)
Dort wird also der Natur die Harmonie zugeschrieben, und der
Gesellschaft das Chaos. Der Autor Jürgen Oelkers erklärt nun, dass die
soziale Dissonanz hindert, dass Ordnung in der Gesellschaft entsteht.
Mit der Musikmetapher könnte gerade dazu aufgefordert werden, doch bitte
Ordnung oder mehr Ordnung in de Gesellschaft hinein zu bringen.
Ich denke nicht, dass dies der von dir gedachten Bedeutung entspricht.
Deine erste Fundstelle ziehe ich wirklich aus dem Zusammenhang, ich
bitte den Autor um Entschuldigung:
"Demgemäß soll man im Bereich des menschlichen Lebens soziale Dissonanz
vermeiden. Hier ist besonders klar, daß der Mensch imstande ist, die soziale
Ordnung entweder zu stören oder sich in Einklang damit zu benehmen."
Auch diese Bedeutung muss einem Piraten doch sicher gegen den Strich
laufen, denn sie führt zu: "Störe so wenig wie möglich, auch du sollst
dich fügen!"
Ich schließe mich dem Karl an, anders als er, indem ich schreibe: Du
bist der Verursacher, dass ich jetzt mit dem überaus interessanten Thema
viel gelernt habe. Deswegen danke ich für das Lesen und deine Schreiben.
Karl liest das alles auch, und ich lache schon zu dem, was er gerade
vorhin schrieb, das ich insgesamt richtig finde.
JH