Am 5. November 2021 09:14:06 MEZ schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am Di., 2. Nov. 2021 um 01:17 Uhr schrieb K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>de>:
Der jeweils bereits vorhandene Erfahrungsfundus
ist modellhaft angelegt,
wobei sich diese Modelle gemäß spezifisch (phylo-)genetischer
Disposition, vor allem jedoch infolge sozialisierter Prägung entwickeln.
Aber, impliziert das nicht eine milde Form des Relativismus?
Welche Instanz sollte qua (von Konstruktivisten
behaupteter)
ausschließlich individueller Subjektbezogenheit, somit bar jedem
Realitätsbezug, paradoxerweise die Unterscheidung zwischen Subjekt-
Objekt resp. Realitätsbezogenheit vornehmen?!
Damit hast du ein sehr heißes Eisen ausgepackt.
Denn diese Frage kann man ja durchaus zurückspielen. Wie ist die
Verbindung zwischen objektiver, betrachterunabhängiger Realität und
erkennenden Beobachter zu verstehen?
Anscheinend besitzt die sog. "Korrespondenztheorie" für die meisten
Menschen eine hohe intuitive Plausibilität. Diese besagt, kurz gesagt,
dass Wahrheit im Übereinstimmen von X mit der Realität besteht. Wobei
für X dann jeweils Aussagen, Gedanken oder "Urteile" eingesetzt werden
können.
Soweit mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt hat der junge
Wittgenstein hier eine Art Abbildungstheorie vertreten. Er postulierte
also eine, durchaus auch mathematische Abbildung zwischen den
Tatsachen und Aussagen. Wobei Wittgensteins Ontologie eben bereits auf
Tatsachen basiert.
Das hat dann Quine kritisiert als "Propositionalismus".
Für ihn war "Es ist wahr, dass schnell weiß ist" nur eine Aussage über
Aussagen.
Dagegen finde ich nichts einzuwenden. Aussagesätze können wahr oder falsch sein. Das ist
keine Theorie. Das weiss jeder, der lernt, wie Beschreibungen und Aussagen funktionieren.
Als eine Art Bild-Ersatz, könnte man doch sagen. Und das Bild kann den Sachverhalt richtig
oder falsch wiedergeben. Wahrheit und Falschheit in diesem Sinn sind Eigenschaften von
Aussagesätzen, um diesen alten Hut zu zitieren.
Der Einwand dagegen scheint zu sein, daß, was wir für die Realität halten, nicht real sein
muss. Man möchte vielleicht schreiben "wirklich real" oder so. Was könnte damit
gemeint sein? Daß wir uns täuschen könnten, oder? Dazu muss man wissen, was Täuschung und
Irrtum sind. Und lernt man das nicht erst, indem man beschreiben und aussagen lernt? Um
dann im nächsten Schritt die eine der beiden Möglichkeiten als einzige auszugeben?
Der radikale Konstruktivist, so würde ich mutmaßen,
müsste eine Form
von Kohärenztheorie der Wahrheit vertreten. Wahr ist demnach diejenige
Aussage, die eine Sinneswahrnehmung am Sinnvollsten in das System des
bestehenden Wissens einsortieren kann. Eben das ist das "Konstruktive"
daran.
Ein RK könnte also antworten: "Die Korrespondenzthese ist nur ein
Vorurteil. Die naive Wahrnehmung einer Sache ist nicht immer richtig.
Sie hat sowieso unlösbare Probleme. Beispielsweise kann kein
Korrespondenztheoretiker die Frage nach der Wahrheit der Realität
akzeptieren, aber genau diese Frage ist stellbar. Beispielsweise
könnten wir ja ein Gehirn im Tank oder die Welt nur eine Simulation
sein. Das mag vielleicht eine abwegige Idee sein, aber sie ist nicht
bereits aus philosophischen Gründen unsinnig. Müsste sie das für einen
KT nicht sein?
Wenn es sich um eine Hypothese handelt, wird man doch nach Beweisen fragen dürfen und
diese akzeptieren, wenn sie stichhaltig sind. Sonst liegt m.E. der Verdacht nah, daß die
Aussagen immanente Irrtumsmöglichkeit verabsolutiert wurde.
Grüsse, Claus
Und die Übereinstimmung zwischen Realität und
subjektive Bewusstsein,
da lässt sich auch wieder ewig philosophieren, weil das total unklar
ist.
Demgegenüber hat der RK den Vorteil, dass man nur zwei Dinge
akzeptieren muss: Ockams Rasiermesser und die Existenz von
Sinnesdaten".
Konstruktivismus in seiner radikalen Ausprägung,
als eine mit jeder
gesellschaftlichen Konvention brechenden Erkenntnistheorie, ist und
bleibt, sowohl wissenschaftlich wie in populistischer Auslegung,
seinerseits ein lächerlich, weltfremdes Konstrukt!
Ich würde es z. T. "medialer Populismus" nennen.
Wenn ein Wissenschaftler oder Denker (die weibliche Form immer
mitgedacht) aufsteht und eine besonders überraschende These vertritt,
dann weckt das Interesse. Es hat Neuheitswert. Bestenfalls reden die
Leute in Online-Foren oder früher vielleicht Kaffeehäusern darüber und
schreiben ebenfalls etwas dazu.
Eine Zeitung oder ein TV-Sender tut also gut daran, darüber zu berichten.
Zudem die Philosophen-Community und selbst die Wissenschaftler nicht
wirklich besser sind.
Auf dem Wege kommt es dann dazu, dass ein Neurowissenschaftler, der
öffentlich philosophiert (oft in Unkenntnis der schärfsten Argumente
der Gegenseite), dass ein freier Wille nicht existiert und über
Implikationen auf unser Strafrechtsregime spricht, sehr viel
Aufmerksamkeit bekommt, während sein vorsichtigerer Fachkollege
ignoriert wird.
Zudem in der öffentlichen Wahrnehmung der Philosoph nur spekuliert,
während der Neurologe ja wohl echte Erkenntnisse zur Hand hat.
Der radikale Konstruktivismus scheint mir dabei in seiner öffentlichen
Wahrnehmung z. T. auf genau diesen Mechanismus aufzubauen. Für die
meisten heutigen Philosophen war es trivial, dass während der
Wahrnehmung auch etwas im Gehirn passiert. Und viele Neurologen
formulieren das dann so, dass das Gehirn ein Bild aus den Sinnesdaten
"konstruiert" - was wohl auch korrekt sein mag.
In der Debatte im Feuilleton kann man das dann vereinfachend als ein
Indiz für die Korrektheit des Konstruktivismus hinstellen und das
Publikum nimmt dann mit "ah, Konstruktivismus ist praktisch bewiesen".
„Wenn ein Mensch sagt, dass er die Wahrheit
gefunden hat, wird er zu
einem gefährlichen Tier!“
Das ist ja kein Wahrheitsbegriff. So eine Warnung finden wir auch bei
anderen Denkern.
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