Rat fragt: Meines Erachtens basieren die meisten ethischen Systeme auf
den Gedanken des "Freien Willens".[...]„Man müsste also eine Ethik ohne
Verantwortung erschaffen. Kann mir jemand folgen?
Man kann davon ausgehen, dass kaum ein Begriff mehr kontrovers
diskutiert wurde und wird, als der des sog. Freien Willens. Meiner
Ansicht nach findet sich jedoch bei diesem anhaltenden Diskurs in nahezu
allen diesbezüglichen Denkrichtungen ein Stück weit zutreffende
Sichtweisen. Eine geschlossene, allgemein anerkannte Begriffsdefinition
des Freien Willens findet sich nicht und somit könnte man versucht sein,
sich aus den vielfältigsten Argumentationen und (Hypo)Thesen ein eigenes
Bild nach Belieben zu formen. Indes ist mit einem pur eklektizistischen
Ansatz zur Begriffsbestimmung nichts gewonnen, wenn – wie hoch aktuell –
nach Gründen und eben nach der Verantwortlichkeit für ein derart
skrupellos, niederträchtig-menschenverachtendes Handeln zu fragen ist,
wie wir es nun in Las Vegas sehen mussten.
Tatsächlich würde die Wertung bzw. Sanktionierung dieser brutalen Tat
unter Außerachtlassung moralischer Verantwortung vom üblichen
gesellschaftlichen Rechtsempfinden abweichen. Die meist unverständlichen
Reaktionen auf Strafmilderung bei sog. psychischer Labilität von
Gewalttätern zeigen (verständlicherweise) das gleiche Empfinden jener
Gesellschaftsschicht, die unter der Begrifflichkeit von Schuld und
Verantwortung bzw. von Verbrechen und Strafe sozialisiert wurde.
Die Frage nun, ob eine „Ethik ohne Verantwortung“ zu schaffen sei, würde
zunächst eine für diese Diskussion förderliche Begriffsdefinition von
Ethik und Verantwortung erfordern. Über letztere haben wir hier zuletzt
geschrieben. Im Kontext des hier eingebrachten Begriffs „Freier Wille"
ergibt sich durchaus aber ein neuer Ansatz. Wollte man den „Freien
Willen“ innerhalb der Betrachtungsweisen von (In)Determinismus,
(In)Kompatibilismus, Libertarismus etc. nun diskutieren, würde man sich
im Disput verlieren. Allein schon die Erörterung der Frage, inwieweit
unsere Lebenswelt determiniert ist und damit ein sog. Freier Wille
überhaupt mit einem (beispielsweise) harten Determinismus vereinbar ist,
würde jede Diskussion sprengen. Ungeachtet, welchen Stellenwert man dem
Determinismus zumisst, sind die kausalen Abhängigkeiten des
physikalischen Weltgeschehens letztlich nicht zu leugnen und insofern
wäre in Bezug darauf der „Freie Wille“ (in konventioneller Auffassung
dieses Begriffs) tatsächlich eine Illusion. Gleichermaßen als Illusion
wurde „Freier Wille“ von durchaus namhaften Neurobiologen deklariert,
nachdem neurobiologische Experimente am Gehirn zeigten, dass
handlungsbezogene Aktivitätsmuster in korrespondierenden Hirnarealen
bereits Sekunden vor bewussten Entscheidungen von Versuchspersonen
messbar waren. Erste diesbezügliche Aussagen von Libet konnten noch
wegen beliebiger Mängel in seiner Versuchsausführung relativiert werden.
Neuere Versuche zeigen jedoch, dass tatsächlich entsprechende
Gehirnareale bereits zehn Sekunden aktiv sind, bevor eine Entscheidung
als bewusst ausgeführt erfahren wird. Dieser Zusammenhang, der - ebenso
wie die Determiniertheit physikalischer Prozesse - nicht mehr
abstreitbar ist, zeigt deutlich, dass der konventionelle Begriff des
Freien Willens nicht geeignet ist, ausschließlich mit neurophysiologisch
gesteuerten Handlungsabläufen in Verbindung gebracht bzw. damit erklärt
zu werden.
Willensfreiheit ist Ausdruck dafür, dass Menschen selbstbestimmt
handeln, gemäß ihren (Lebens-)Erfahrungen, Vorstellungen, Wünschen und
Absichten, die ihrerseits Handlungsursache sind und solchermaßen als
Verhaltens-/Handlungsmuster holographisch im Gehirn (als potentielle
Entscheidungsmatrix) gespeichert sind und für die Entscheidungsfindung
unbewusst genutzt wird.
Die unbewussten Prozesse sind offensichtlich Grundlage für menschliche
Willensbildung, entziehen sich aber wegen ihrer Komplexität und
holografischen Verteilung im Gehirn (erschöpfenden) technischen
Messungen und darüber hinaus auch unserer unmittelbar bewussten
Wahrnehmung. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass diese für
uns unbewusst ablaufenden Prozesse einer Logik entbehren. Eher zeigt
sich im Alltagsgeschehen, dass eine späterhin erfolgte Interpretation
von Handlungs- bzw. Entscheidungsgründen oftmals falsch ist.
Keinesfalls hat also die Hirnforschung den freien Willen (resp.
Handlungfreiheit) als Illusion entlarvt und damit ein Gesellschaftsbild
erschüttern können, das notwendigerweise auf den Begriffen von Schuld
und Verantwortung basiert.
Unter diesen genannten Gesichtspunkten kann man sich wieder getrost
einer ganzheitlichen Sichtweise auf den sog. Freien Willen widmen, wie
sie sich seit Jahrtausenden (durchaus unter verschiedensten
Denkansätzen) entwickelt und als kulturell-gesellschaftliche
Konstruktion im menschlichen Gehirn verankert hat.
Man mag mit Sophokles beginnen: „Der Mensch hat die höchste sittliche
Freiheit (Autonomie) dann, wenn er das Göttliche als eigenstes Gesetz
tut.“ Weniger pathetisch die Sophisten: Freiheit hat, wer der Natur
gehorcht. Und Aristoteles‘ „Wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es
auch das Unterlassen“ führt geradewegs zu Locke, wonach der Mensch über
die Fähigkeit verfügt, Wünschen und Begierden entsprechende
Handlungsimpulse zu suspendieren.
Wo Freiheit (im Denken und Handeln) jedoch nur als Selbsttäuschung
vorherrscht, schreibt Goethe: „Niemand ist mehr Sklave, als der, der
sich frei hält, ohne frei zu sein.“ (Wahlverwandtschaften). Damit wird
deutlich (und es gilt für unsere Zeit insbesondere), dass der Mensch
umso mehr Willens-/Handlungsfreiheit hat, als er über Wissen, Erfahrung
und vor allem auch über (Herzens-)Bildung verfügt.
Das Gehirn in all seiner Komplexität ist unverbrüchlicher Teil einer
Person und in dieser Einheit ist diese für ihr Handeln verantwortlich.
Das setzt natürlich die mentale Unversehrtheit voraus. Nur wenn diese
nicht gegeben ist, gilt: Keine Strafe ohne Schuld. Damit erübrigt sich
die Schaffung einer Ethik ohne Verantwortung.
Bester Gruß
Karl
PS: Die Aussage "Je mehr Wissen, desto mehr Freiheit" hat für uns
Menschen eine sinnvolle Begrenzung: Absolutes Wissen (Allwissenheit)
würde menschliches Leben auf unserem Erdenkügelchen unmöglich machen.
Das zu unserem Trost bzgl. "Ich weiß, dass ich nichts weiß!" Mit unserem
"Scheinwissen" sind wir also lebenstechnisch auf der sicheren Seite.
Der Preis dafür: eingeschränkte Freiheit - wie wir es tagtäglich erleben :)
Am 01.10.2017 um 11:37 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Hallo liebe Liste,
entschuldigt bitte, wenn meine Gedanken unausgegoren oder albern wirken.
Zunächst einmal: Meines Erachtens basieren die meisten ethischen
Systeme auf den Gedanken des "Freien Willens". Man macht Menschen für
Dinge verantwortlich, die sie tun, nicht für andere Dinge.
Meine Frage lautet nun: Nehmen wir an, eine neue Neuropsychologische
Theorie könnte aus Begleitumständen zwingend ableiten, wie sich eine
Person in Zukunft verhalten wird.
Wenn jetzt die Person A in den Umständen B sich befindet, dann wird A
z. B. ein Rowdy oder ein Dieb.
Können wir in dieser Situation im Ernst noch Person A für seine
Karriere als Dieb oder Knochenbrecher verantwortlich machen? Es waren
ja eigentlich nur die Umstände B, die ihn dazu führten. Er wäre als
Person für seine Handlungen ebensowenig verantwortlich wie
beispielsweise eine chemische Reaktion für ihren Verlauf
verantwortlich ist. Es liegt keine Entscheidung zu grunde.
Ein Kompatibilist könnte jetzt sagen, dass ich hier einen Denkfehler
mache. Wir haben nicht herausgefunden, dass es keinen "Freien Willen"
im Sittlichen Sinne gibt, sondern wie haben etwas neues über den
Willen erfahren. Eben das es sich dabei nur um die Neuropsychologische
Sache XYZ handelt.
Nur meines Erachtens erzwingt diese Interpretation weitreichende
Schlussfolgerungen in Bezug auf Verantwortung und Moral.
Man müsste also eine Ethik ohne Verantwortung erschaffen.
Kann mir jemand folgen?
Was denkt die Liste?
Gruß
Rat.
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