Du sagst ungefähr, dass das wilde Tier mit ein bisschen Zivilisation nur oberflächlich
geschminkt wurde und alles andere Wolkenkukucksheim ist. Aber wäre das, selbst wenn es so
wäre, ein Grund in die alte Barbarei zurückzufallen? Ich halte es für barbarisch und alles
andere als die normalste Sache der Welt, zum Panzerfahrer zu werden, wenn jemand nicht so
will wie ich. Und das ist auch bei weitem nicht der Normalfall. Nur ein paar Leute sind so
drauf und müssen aus meiner Sicht daran gehindert werden, ihre Rücksichtslosigkeit auf
Kosten anderer nach Herzenslust auszuleben.
Ich bin nicht so naiv, nicht wahrhaben zu wollen, dass so etwas weit unterhalb der
Schwelle strafbaren Verhaltens gar nicht so selten ist. Das Gegenteil aber auch nicht.
Ist das Leben nicht zumindest teilweise, was man daraus macht? Man könnte versuchen, es in
die Hölle zu verwandeln, für die man es hält, um zu beweisen, wie recht man mit seiner
Einschätzung hatte. Das kann man sich nicht nur abstrakt vorstellen, sondern tatsächlich
beobachten. Ich wäre für den Versuch, das Gegenteil zu beweisen. Die Leute, die einem die
Geschichte vom Leben als ewigem Kampf erzählen, verwechseln es vielleicht mit ihren
persönlichen Neigungen oder "dem Gott, an den sie ihr Herz hängen", in
theologischer Ausdrucksweise. (Bei dir gehe ich davon aus, dass du nur der Gegenposition
auf den Zahn fühlen möchtest.) Meine Position ist nicht weniger persönlich - jeder muss
wissen, wofür er steht - zwingt im Gegensatz zur von dir vertretenen aber niemandem etwas
auf ausser der Unterlassung von Grenzüberschreitungen und bei einem "lass mich in
Ruhe!" von Aufzwingen zu reden wäre doch vielleicht eine demagogische Überdehnung des
Begriffs.
Ich ziehe ein Leben in einem Rechtsstaat dem in einer Faustrechtsgesellschaft vor.
Künstlich ausgedacht ist das nicht. Die meisten finden es schon in Ordnung, die gesetzlich
geschützten Rechtsgüter zu respektieren. Es gibt Leute, die das anders sehen. Deshalb ist
das staatliche Gewaltmonopol nötig, um von Rechtsbrüchen abzuschrecken und Recht
durchzusetzen, wo sie stattfinden.
Das Problem ist, dass es kein überstaatliches Gewaltmonopol gibt, keine Instanz, die das
Völkerrecht durchsetzen könnte wie innerstaatliches Recht. Sollte die Konsequenz daraus
sein, sie hinzunehmen und vielleicht sogar noch Beifall zu klatschen? Ich wäre auch hier
für den Versuch eines Gegenbeweises. Das letzte Mittel, zu dem dabei gegriffen werden
dürfte, wäre Gewalt, wenn man sich dieses Gesetz geben möchte.
Claus
Am 20. Juli 2024 09:31:29 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb"
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Lieber Claus,
alles, was du schreibst ist erstmal „richtig“ und kaum kritisierbar, aber das wichtige,
alles entscheidende Wort fällt bei dir ja schon gleich am Anfang:
CZ: „Unter Verteidigung würde man rechtlich etwa verstehen…“
Genau um ein solches „rechtliches“ Verständnis geht es aber nicht, bei Cl. Deine
Ausführungen zeigen insofern nur, wie wir gewöhnlicherweise uns die Dinge (also hier:
Gewaltaktivitäten) zurechtlegen, wir stülpen über die Realität ein menschengemachtes
Gewebe von „rechtlichen“ Grenzen, bestimmen irgendwelche „Rechtsgüter“, unterscheiden so
fein-säuberlich wie künstlich Mittel und Zwecke, legen willkürlich (wie schon gesagt)
zeitliche und räumliche Koordinaten fest, mit Hilfe derer sich dann genau feststellen
läßt, wer „angefangen“ hat und wer „Invasor“ und wer „Landesverteidiger“ ist. Das kann man
so machen, das kann man als sog. „zivilisatorische Errungenschaft“ sogar für völlig
unverzichtbar halten, aber man sollte sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es immer nur
„normativ“ funktioniert, kontrafaktisch, also: als Wunschdenken. Man kann dann daran
wunderbare Sonntagsreden, Ideologien, Propaganda, ganze globale Konzepte der „Weltordnung“
orientieren, sollte aber gleichzeitig wissen, womit man es „in Wahrheit“ zu tun hat und
worauf man sich einläßt. (Also z.B. darauf, daß da, wo es „Recht“ gibt, der „Rechtsbruch“
eben auch immer sofort an der Tagesordnung ist – so wie überall, wo man mit „Wünschen“
operiert, Enttäuschungen vorprogrammiert sind - , also immer die Frage entsteht, wie man
dann damit dann umgeht, mit dem, was eigentlich „nicht sein soll“…).
Außerhalb dieser normativ aufgeladenen juristischen Beschreibungsform hat man es eben nur
mit dem Allernormalsten und Alleralltäglichsten der Welt zu tun: zwei unterschiedliche
Willen, die aufeinanderprallen und konfligieren. Dann wird sofort schon dein erster Satz
fragwürdig:
CZ: „A hindert B daran, A etwas zu tun, aber nicht mit der Absicht, ihm umgekehrt etwas zu
tun, sondern, um sich zu schützen. Im Idealfall hält er ihn einfach fest“
Was heißt: „sich schützen“? 1000 Fälle sind vorstellbar, wo man sich gerade vor dem
„Schutz“ durch andere schützen will (z.B. Impfverweigerung, Schutzgelderpressung) oder wo
jede Schutzmaßnahme durchaus aggressive Züge trägt (SUVs, Grenzsperren; selbst das
Rauchverbot, das den Nichtraucher „schützen“ soll, ist ein Angriff auf das Wollen des
Rauchers, usw.). Und dann eben die Fälle, in denen angebliche defensive Strategien
offensive Züge annehmen (ich sprach von „Prävention“): und es ist ja vollkommen klar, daß
der hilflose Hilfsbegriff der „Verhältnismäßigkeit“ da überhaupt nicht hilft.
Natürlich kann kein Angreifer auf irgendein „Recht“ pochen, denn das würde man ihm
freilich bestreiten; aber das tut er ja auch gar nicht, er macht einfach. Er „will“ etwas
Konkretes und versetzt sich in einen rechtsfreien Raum, in dem er schlicht seine
Interessen wahrnimmt und in dem er den Erfolg dieses Wollens nur noch vom faktischen
Gewaltgebrauch abhängig machen will (bzw. besser noch: von der bloßen Gewaltandrohung).
Man darf das Recht nicht lächerlich machen, aber man darf sich ja mal probeweise die
Situation vorstellen, in der ich dem nächtlichen Straßenräuber („Geld oder Leben“!)
versuche, klarzumachen, daß er ja doch bitteschön gar nicht „das Recht hat“, mich vor
diese Wahl zu stellen.
Cl. will, das wäre meine These (aber ich bin sicher kein Cl.-Experte), klarmachen, daß die
Entscheidungen zur Gewaltanwendung (und zwar eben sowohl „Angriff“ wie „Verteidigung“)
immer vor dem Hintergrund eines zunächst als rechtsfrei anzunehmenden Raums analysiert
werden müssen.
JL
Von: Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Freitag, 19. Juli 2024 19:00
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Claus Zimmermann <mail(a)clauszimmermann.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Unter Verteidigung würde man rechtlich etwa verstehen: A hindert B daran, A etwas zu tun,
aber nicht mit der Absicht, ihm umgekehrt etwas zu tun, sondern, um sich zu schützen. Im
Idealfall hält er ihn einfach fest. Wenn er das aber nicht kann, weil B zu stark ist,
würde auch ein Schlag juristisch als Verteidigungshandlung gewertet, wenn er nicht
unverhältnismässig wäre.
Was den Angriff rechtlich zum Angriff macht, ist die stattfindende oder unmittelbar
bevorstehende Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsguts wie z.B. Leben, Gesundheit,
Selbstbestimmung, Eigentum. Der, von dem sie ausgeht, ist der Angreifer.
Und das kann man unabhängig von kriegstechnischen Detailfragen sinngemäss auch bei
Clausewitz wiederfinden. Er sagt, dass der Sinn des Kriegs ist, dem anderen seinen Willen
aufzuzwingen, das Mittel ist Gewalt. Wer das versucht, fängt den Krieg eigentlich an. Auch
wenn im Krieg beide Seiten Gewalt anwenden und der Verteidiger möglicherweise zuerst.
Dass das Vergewaltigungsopfer versucht, dem Vergewaltiger seinen Willen aufzuzwingen,
nicht weiter vergewaltigt zu werden, ist rechtlich belanglos, weil es damit nicht in ein
"Recht auf Vergewaltigung" eingreift.
Zu zwei früher angesprochenen Punkten:
Man soll niemandem zumuten, wozu man selbst nicht bereit ist.
Wenn man die Gegenseite in einem Konflikt für rational kalkulierend hält, kann man
annehmen, dass sie ihn nur beendet, wenn ihre Kosten zu hoch werden.
Claus
Am 19. Juli 2024 15:28:03 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb"
<philweb@lists.philo.at<mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Hier nurmal ein paar erste Überlegungen zum allerersten Absatz des besagten Kapitels
(6.1). Interessiert ja wahrscheinlich niemanden hier, weil man offenbar lieber
freidrehende Allerweltszeitdiagnosen verkündet; ich schreib das hier dann einfach vor
allem für mich selber auf. (Und bin erst bei der ersten Seite des40-seitigen Kapitels...)
Clausewitz (ab jetzt Cl.) will offenbar v.a. darauf aufmerksam machen, daß die
konventionellen Kriegsbeschreibungs-Begriffe viel zu unscharf sind, um dem uneindeutigen
Geschehen auf dem „Kriegstheater“ (Cl.s Ausdruck) gerecht zu werden; das gilt schon für
den scheinbar elementar-einfachen Begriff der „Verteidigung“. Das damit Gemeinte (also:
nur reagieren, nur den „Stoß“ des anderen abwarten) muß relativiert werden, denn wenn sich
Verteidigung darauf vollständig beschränken würde, wäre das eben jene (schon
angesprochene) märtyrerhafte Option der völligen Gewaltlosigkeit, die verhindert, daß es
zu einem „Krieg“ überhaupt kommt - freilich mit dem hier bereits diskutierten Risiko der
vollständigen „Auslöschung“: aber selbst das wäre eben dann "einkalkuliert"; man
will dann lieber tot sein als sich dem Odium der eigenen (!) Gewaltausübung auszusetzen
(will sich „die Hände nicht schmutzig machen“); man kennt die Fälle, in denen jemand, der
einen lebensbedrohlichen Angreifer in reiner „Notwehr“ getötet hat, trotzdem lebenslang
Gewissensbisse hat.
Daher meint Cl., daß das „Merkmal des Abwartens und Abwehrens“ nur relativ ist, es kann
auch schon zur Kriegsstrategie gehören (es kann also schon echter „Krieg“ sein), wenn man
einen Angriff abwartet (in einer wohlpräparierten Festung oder Gefechts-Stellung z.B.):
denn man hat sich ja damit schon zur Gewaltanwendung längst entschlossen, man wartet nur
noch den „richtigen“ Moment ab, weil das eben die vorteilhaftere Kriegsstrategie ist. Auf
den Angriff zu „warten“, ist also keine prinzipiell nicht-bellizistische, „pazifistische“
Option, sondern ein Modus der Kriegsführung wie andere auch. Und andersherum wird man
ebenso zugeben müssen, daß auch „offensive“ Aktionen eigentlich verteidigenden „Sinn“
haben können, wie all das, was sich als Prävention rechtfertigen will (bis hin zur Phrase
vom Angriff als „beste Verteidigung“). Kap. 6.1 schließt so:
„Die verteidigende Form des Kriegführens ist also kein unmittelbares Schild, sondern ein
Schild, gebildet durch geschickte Streiche.“
Das lese ich so: Es gibt keine rein defensive Kriegstaktik (die römische Formation
"Schildkröte" bei Asterix), sondern wer sich überhaupt verteidigen will, muß
auch (pro)aktiv sein, nicht nur sein Schild (Scutum) hochhalten, sondern mit der anderen
Hand auch das Schwert benutzen. Das Aktive und das Passive gemeinsam machen erst die
(sinnvolle, erfolgversprechende) Verteidigung aus.
Was immer Cl. damit sagen will, eines scheint er eben auf jeden Fall ausschließen zu
wollen: Angriff und Verteidigung lassen sich durch die üblichen Koordinaten von Zeit und
Raums NICHT (so ohne weiteres) unterscheiden: weder ist der, der „angefangen“ hat, per se
der Angreifer, noch der, der nur reagiert, der Verteidiger („ab 5.45 Uhr wird
zurückgeschossen“ ist ja die Standardlüge zu praktisch jedem Kriegsausbruch), noch ist
der, der auf „eigenem Territorium“ kämpft, deswegen schon der Verteidiger (man kann zur
effektiven „Verteidigung“ die eigenen Landesgrenzen überschreiten müssen: auch das zeigt
der Ukraine-Krieg gerade). Also: alle diese „einfachen“ binären Beschreibungen und
Zuordnungen (die uns ja letztlich nur die moralische Wertung gut/böse bzw. die
Identifikation Freund/Feind erleichtern sollen) sind falsch, zumindest: fraglich. Und
daher: kaum hilfreich.
(Und nur als „popkulturelles“ Beispiel: das (z.B. früher in der DDR) gern zur
Rechtfertigung von Aufrüstung herbeizitierte Wilhelm-Busch-Gedicht „Bewaffneter Friede“
vom Igel als „Friedensheld“ ist eben vielleicht auch nur wenig durchdachte
Poesiealbums-Folklore).
(to be continued)
J. Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Landkammer, Joachim über PhilWeb
<philweb@lists.philo.at<mailto:philweb@lists.philo.at>>
Gesendet: Mittwoch, 17. Juli 2024 20:58
An: philweb <philweb@lists.philo.at<mailto:philweb@lists.philo.at>>
Cc: Landkammer, Joachim
<joachim.landkammer@zu.de<mailto:joachim.landkammer@zu.de>>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
IT: "mich störte Deine voreilige Verallgemeinerung Clausewitzens. Um eine
textkritische Interpretation geht es mir nicht, sondern nur ums Weiterdenken. "
Genau, das Voreilige hat mich selber auch gestört. Deswegen muß man es
"weiterdenken", richtig. Aber man wird doch vermuten dürfen, daß Clausewitz
selber es auch schon "weitergedacht" hat, vielleicht sogar "weiter",
als wir selbst es jemals denken können. Deswegen scheint es sinnvoll, erstmal zu lesen.
Und überhaupt scheint mir, daß es der Diskussion hier allgemein gut tun würde, wenn sehr
viel mehr gelesen und "interpretiert" würde, anstatt immer gleich eigene (mehr
oder weniger qualifizierte, originelle, neue) Meinungen abzusondern. Das hängt auch mit
der nervös hohen Schlagzahl der Interventionen hier zusammen. Wir sollten vielleicht sowas
ausmachen wie: jetzt mal eine Woche Sendepause, dann reden wir über Clausewitz´ 6. Kapitel
über "Verteidigung" weiter. (Den von dir empfohlenen Text von Leeuwen/Elk hab
ich auch immer noch liegen, und wollte mich noch dazu äußern, bin aber noch nicht zum
Lesen gekommen). Aber das paßt offenbar nicht zur Vorgehensweise dieser Liste hier, über
die ich ja nicht zu bestimmen habe.
IT: "Ja, das sehe ich auch so, halte die These [Krieg als Fortsetzung der Politik mit
andern Mitteln, JL] aber nicht für famos, sondern für gefährlich militaristisch. Das ist
Aristokraten-, Diktatoren- oder Autokraten-Politik. "
Richtig, "famos" war das vollkommen falsche Wort, ich wollte nur sagen
"famous", berühmt. Aber "militaristisch" ist das Motto gerade nicht,
das ist Unsinn. Man kann zeigen, daß es gerade radikalen Pazifismus möglich macht: weil es
Krieg eben als eine primär "politische Option" versteht, gegen die man eben auch
POLITISCH vorgehen kann. Aber auch dazu müßte man weit ausholen und sich den Hintergrund
bei Clausewitz genauer anschauen. Also auch wieder: lesen.
IT: "wenn ein Machtpolitiker [...] aus den Drohungen Gewaltausübungen macht, dann
handelt es sich unabhängig davon, ob der Angegriffene sich verteidigt, um einen
Angriffskrieg. Denn wie anders als mit Gewalt können Truppen ohne Visa oder vereinbart die
Grenze überschreiten?"
Es gibt ganz viele "Annexionen" in der Weltgeschichte, die genauso funktioniert
haben: man ist einfach ins (wehrlose, sich nicht wehrende) Nachbarland einmarschiert und
hat es okkupiert, fertig. Kein einziger Pistolenschuß, kein einziger Verletzter, kein
einziger Sachschaden. Niemand hat das je "Krieg" genannt. Krieg ist es erst,
wenn der Annektierte sich wehrt.
JL, jetzt erstmal in Lesepause.
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