Hallo,
der wesentliche Punkt ist schon richtig. Auch mir ist nicht völlig klar,
wie man den Determinismus widerlegen sollte oder umegekehrt den Freien
Willen beweisen.
Das Problem scheint mir jedoch zu sein: Wenn ich eine große Menge von
Menschen betrachte, werde ich fast sofort und ohne Probleme bereit sein,
irgendwelche statistischen Zusammenhänge zu akzeptiere. Sitzt aber *ein
Mensch* direkt vor meiner Nase, dann scheint es mir genauso evident,
dass er an seinen Handlungen selbst Schuld ist.
Je nach den Umständen würde ich vielleicht denken: armer Kerl, im Grunde
kann ich ihm keinen Vorwurf machen außer dem, daß er kein Superheld ist.
Ich halte sowohl eine Ethik als auch eine
Erkenntnistheorie für möglich,
die ohne die Annahme eines Freien Willens auskommt. Nur wäre diese Ethik
eben geprägt von Utilitarismus und Vorbeugung. Nun gibt es diverse
Denker wie Schopenhauer, die auch ohne freien Willen gut vorankommen.
Die Denkbewegung unserer Zeit, falls ich es so formulieren darf, geht
aber in eine andere Richtung. Ich denke, dass wir dann eher in einer
hedonistischen Präventionsgesellschaft landen könnten.
Nun, die gesellschaftlichen Auswirkungen solcher Gedanken sind mir
ohnehin nicht das Hauptanliegen und, da ich hier wahrscheinlich eh kaum
ein Publikum erreiche, ist es auch egal.
So könnte es vielleicht ein Determinist sehen. Aus einem
Informationsvorsprung und grundsätzlich gutem Willen selbstloser
Behörden würde ihre Pflicht folgen, ihre Schäfchen so zu manipulieren,
daß sie sich nicht ständig selbst schaden. Sieht man es dagegen so, daß
beide Seiten aus dem gleichen Holz geschnitzt und in der Lage sind, ihre
eigenen Drehbücher zu schreiben, fände man es wohl eher anmassend.
Gruß
Rat.
Am Di., 31. Dez. 2019 um 19:05 Uhr schrieb Claus Zimmermann <@>:
Determinismus und Voluntarismus unterscheiden sich in der Antwort
auf die Frage, ob der Delinquent auch anders hätte handeln können.
Beide Antworten klingen wie normale Behauptungen, unterscheiden sich
von ihnen aber dadurch, daß nicht klar ist, was als Beweis oder
Widerlegung gelten würde. Natürlich bestreitet der Voluntarist nicht
Tatsachen der Physiologie, Erziehungseinflüsse, sonstige
Umgebungseinflüsse und der Determinist nicht, daß der Delinquent
sich seine Gedanken macht. Sie sind nur nicht einig darüber, ob er
auch anders hätte denken und handeln können. Und dafür lässt keiner
irgendeinen Beweis der Gegenposition oder irgendeine Widerlegung der
eigenen gelten. D.h die Subsumtion scheitert nicht an der
praktischen Durchführung. Sondern daran, daß man nicht weiß, was zu
beweisen ist? Aber das hat man doch gesagt. Offenbar doch nicht,
denn sonst müsste man wissen, wann der Beweis zumindest theoretisch
erbracht und wie er zu widerlegen wäre.
Nehmen wir den Satz "ich kann...". Das sind leere Worte, wenn ich
nicht weiß, was "..." bedeutet. Ich brauche eine Beschreibung oder
Demonstration. Der Beweis besteht dann darin, daß ich ... vorführe.
Wenn ein Beweis aber nicht nur praktisch, sondern prinzipiell nicht
möglich sein sollte, sollte das nicht an der fehlenden Erklärung von
"..." liegen?
Wenn man dagegen unsere Freiheit darin sehen würde, daß wir Pläne
machen und unser eigenes Drehbuch schreiben können, würde sich der
Widerspruch des jungen Manns auflösen. In den alten Schriften steht,
daß man das tun soll, aber auch, daß daraus meist sowieso nichts
wird und daß Spontaneität auch wichtig ist.
Claus
Am 30. Dez. 2019, 22:32, um 22:32, Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>> schrieb:
[Philweb]
Hallo Liste,
ich ergreife wieder das Wort, um das Thema noch einmal von einer
anderen Seite aus zu behandeln.
Um bei diesem Thema voranzukommen, so glaube ich, ist es hilfreich,
wenn man noch mal die beiden "Eckpunkte" getrennt anschneidet.
1. Warum "Bewusstseinsspaltung"?
Ich schrieb ja zu beginn der "Dichterische Bewusstseinsspaltungen"
folgendes:
"//Ein junger Mann sitzt [..] vielleicht in seinem Zimmer, bis spät in
die Nacht und stellt sich selbst solche Fragen wie "soll ich studieren
oder ein Handwerk lernen?", "Soll ich wirklich 'Philosoph' werden oder
wäre es nicht vielfach klüger, etwas anderes zu werden?" oder "Ist die
Art und Weise, in der sich unsere Gesellschaft entwickelt gut? Was
bedeutet die Antwort auf die Frage für mich, werde ich nicht sowieso
mitmachen?"
In dem Moment macht auch Determinismus keinen Sinn//"
Ich meine, dieser Teil des Satzes bringt nach wie vor eine Wahrheit
zum Ausdruck. Wenn jemand hineinkommen würde und diesen jungen
Menschen z. B. Statistiken darüber vorlegen würde, wie andere junge
Menschen in seiner Situation, mit seinem Hintergrund usw.usf.
entschieden haben, würde es den jungen Mann keinen Schritt
weiterhelfen. Eine dritte Person könnte vielleicht die Aussage machen
"wenn 99% der Menschen mit den Eigenschaften des jungen Mannes die
Entscheidung treffen, irgendwas zu studieren, dann ist die
Wahrscheinlichkeit auch sehr hoch, dass dieser individuelle junge Mann
tatsächlich studiert", aber das hilft den jungen Mann wenig weiter.
Mal ehrlich, wer von uns würde sich durch so eine Begründung schon
motiviert fühlen? Das ist vielleicht eine rationale Vorhersage des
Verhaltens, aber keine rationale Rechtfertigung.
Ich denke hier berechtigt zu sein eine Linie zu ziehen bis vor
Gericht.
Vor Gericht steht ein Verbrecher. Man kann jetzt
lückenlos nachweisen,
dass Menschen z. B. aufgrund schlechter Erziehung, schlechter
Wohngegend, neurologisch-psychologischen Eigenschaften oder andere
Kriterien häufiger Deliquent werden. Man kann dann sagen, "er kann
nichts dafür, er ist Opfer der Umstände oder der Gesellschaft, die das
zugelassen hat", aber negiert das seine individuelle Schuld, ein
Verbrechen begangen zu haben?
Der Punkt ist, dass wir mildernde Umstände geltend machen würden, wenn
z. B. irgendwelche hormonellen Störungen vorliegen. Dann kann es sein,
dass die Person wirklich nicht mehr als Person handeln konnte wie sie
wollte und wir hier quasi nur die Aktion seines Körpers haben.
Jetzt könnte ein Determinist kommen und betonen, dass jedes Verhalten
immer eine neurologische Ursache haben muss, da der menschliche Geist
eine Funktion des Gehirns (und vielleicht anderer Teile des
Nervensystems, eventuell des Immunsystems) ist. Wer diese Annahme in
Frage stellt, der müsse spirituelle Substanzen, Geister oder
dergleichen annehmen. Das sei aber doch noch schwerer zu rechtfertigen
als die Existenz von Materie und Energie.
Das scheint die Herausforderung zu sein, die ich durch die
"dichterische Bewusstseinsspaltung" lösen wollte. Der "Dichter" kann
sich nicht selbst als eine Art Automat betrachten, er muss
zwangsläufig als handelndes Subjekt auftreten.
Und das "Dichterbewusstsein" ist deshalb gespalten, weil es einerseits
anerkennt, dass es ein "natürlicher", biochemisch/bioleketrischer
Prozess ist, aber andererseits an Schuld und Verantwortung festhält.
Die Spaltung würde augenblicklich aufhören - zumindest in Dichtung,
nicht unbedingt in Wahrheit - , sobald entweder die Perspektive als
handelndes, erkennendes Subjekt aufgegeben wird oder wenn der
Materialismus-Determinismus negiert wird. Abstrakt, "from a logical
point of view" stehen beide Optionen natürlich zur Verfügung, doch
nicht für den "Dichter", weil er ja Subjekt bleibt und die Welt ihn
eben als materielle Welt erscheint.
Das mit dem gespaltenen Bewusstsein erstreckt sich aber auch auf
Richter, Mathematiker oder Piloten. Auch hier haben wir es mit
Menschen zu tun, die eine Entscheidung treffen und gleichzeitig mit
Leuten, deren Entscheidung man zumindest prinzipiell voraussagen
könnte. Bei den Richtern ist das inzwischen schon Realität geworden
und es stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft damit umgeht.
2. Die zweite Frage ist mein Vorschlag zur Auflösung dieser Spaltung:
Die teilweise Aufgabe des Satzes vom Widerspruch.
Dieser Teil hat wohl am Meisten Widerspruch angeregt.
Ich muss an dieser Stelle noch einmal voraus schicken, die Aussage "Es
gibt Sätze, die gleichzeitig beides sind, wahr und falsch" impliziert
nicht, dass alle Sätze zugleich wahr und falsch sind. Das ist ein
Fehlschluss, eine Unterstellung. In Wahrheit wird auch jemand, der
diesen Satz zustimmt, in 90% der Fälle ein "Entweder Oder" akzeptieren
können. Genauso wie der Intuitionist in viele Fällen
Widerspruchsbeweise akzeptiert.
Widerspricht die These damit den Gesunden Menschenverstand? Ist sie
pauschal unsinnig? Ich glaube nicht.
Das Problem ist, soweit meine Einschätzung, dass wir Regeln brauchen,
wann ein Widerspruch okay und zu akzeptieren und wann er tatsächlich
ein Problem ist. Die Logiken, die diese Regeln aufstellen und
enthalten, scheinen mir aber allgemein bei weitem weniger einfach
einsichtig und handhabbar zu sein als die klassische Logik.
Es besteht also doch eine hohe Motivation, eine klassische Lösung zu
suchen.
Ich bitte die Diskussionsteilnehmer nur, sich die bloße Möglichkeit
durch den Kopf gehen zu lassen.
P.S. Die Überschriften "Dichterische Bewusstseinsspaltungen" und
"Plaudereien am Rande des gespaltenen Dichterbewusstseins" spiegeln in
erster Linie die Vorliebe des Autors "Ratfrag" wider. Ursprünglich
bezog der Dichter auf den von Ingo zitierten Gerhard Tersteegen.
Bewusstsein und dessen Spaltung ist thematisch gewählt und Dichter
passt dazu sehr gut, auch wenn Tersteegens Gedicht nach meinen
Dafürhalten weder eine Spaltung ausdrückt, noch ein direkter Bezug
besteht. Philosophische Bewusstseinsspaltung und dergleichen hätte
meines Erachtens falsche Assoziationen geweckt. Andere Begriffe einen
noch unerwünschteren Beigeschmack.
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