Hi IT,
man kann mit vielem von dem, was du schreibst, sympathisieren, aber vor allem eines wird
mir wahrscheinlich immer fernstehen (nenn es einen Gen-Defekt): dieser Drang, alles
einzuordnen, einzureihen, in "Spannweiten von ... bis", in Schichtungen,
Abfolgen, Kontinuitäten, Anschlußzwängen, Generierungsmöglichkeiten. Ich sehe eher überall
Brüche, Inkompatibilitäten, Differenzen; ich würde eher sagen: fast nichts im Leben ist so
konsistent, daß sich daraus irgendwas sinnvoll "generieren" ließe. Schon diesem
einen Zitat:
"Alle Theorien sind Redeinstrumente zur Stützung schon begonnener Praxis.“
würde ich zumindest diese Fragezeichen entgegenhalten:
- wieso "Stützung"? gibt es nicht Theorien (und sind es nicht vielleicht gerade
die interessantesten), die gängige Praxen eher schwächen, hinterfragen, desavouieren? Die
evtl. sogar von jeder "Praxis" generell abraten?
- was heißt "schon begonnen"? Gibt es nicht Praxen, die zwar vielleicht
irgendwie-irgendwann begonnen haben, aber trotzdem dauernd "stottern", taumeln,
unsicher vor sich hin wurschteln, dauernd unterbrochen werden, nie wirklich richtig
"funktionieren"? Wird hier nicht ein Immer-schon-Funktionieren unterstellt, das
genau besehen in der "Praxis der Praxis" gar nicht festzustellen ist?
- das Wort "Redeinstrumente" unterstellt, daß es neutrale und objektive
Beschreibungsformen sind, oder? Wie wäre es, wenn wir stattdessen
"Propaganda-Instrumente" sagen würden? Gibt es nicht
"Redeinstrumente", die die Praxis verfälschen oder schönreden, verharmlosen (du
sagst selbst "hochstilisieren")? also eine "legitimatorische Absicht"
haben? wie unterscheiden wir diese "Redeinstrumente" von anderen,
"bessere" von "schlechteren"?
Mein "Motto für eine Kunsttheorie"? Keine Ahnung, wahrscheinlich irgendwas
zwischen "Anything goes" und "Shit happens"... Ich würde
wahrscheinlich auch sagen, es gibt gar keine sinnvolle Kunsttheorie, sondern nur Theorien
zu einzelnen Künstlern, oder sogar: einzelnen Kunstwerken. Wenn ich was sagen soll zu
"Ulysses" oder zu "Buddenbrooks" oder zu Günter Grass'
"Zitronenfalter", fällt mir vielleicht was ein, aber keine irgendwie gehaltvolle
Roman- oder Gedichttheorie...
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Samstag, 27. Juli 2024 11:11
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi JL,
vom Zufall über das Spiel und den Protest zur Revolte. Noch größer wäre die eine
Spannweite zwischen Frieden und Krieg, der wiederum zufällig auf die Revolte folgen
könnte. Die andere Spannweite reicht vom exakten Verstehen über das technische
Funktionieren und die Alltagstätigkeit zur kunstorientierten literarischen Kommunikation.
Darüber könnten sich viele Menschen einigen, Abweichungen träten in den jeweiligen
Wertungen der Hervorhebungen aus den Spannweiten auf. Zwischen uns hinsichtlich Kunst und
Wissenschaft vielleicht, die ich im Unterschied zu Dir für gleich wichtig bzw. bedeutsam
halte. Und ebenso wie die Wissenschaften halte ich auch die Künste für hochstilisierte
Lebenspraxen. Eine meth. konstr. Kunsttheorie ist mir allerdings noch nicht bekannt
geworden. Das ZKE in Kiel arbeitet unter einem Motto Lorenzens: „Alle Theorien sind
Redeinstrumente zur Stützung schon begonnener Praxis.“ Was wäre denn Dein Motto für eine
Kunsttheorie?
Eine weitere Ergänzung zu den genannten Spannweiten wäre neben ihrer gleichsam
horizontalen Dehnung ihre vertikale Schichtung. Sprachvariationen oder allgemein
abweichendes Verhalten können psychophysisch willentlich-sympathisch oder
autonom-vegetativ bedingt sein. Darüber liegt die gesellschaftliche und darunter die
natürliche Ebene bzw. die soziale Kommunikation und der Mensch-Natur-Stoffwechsel. Alle
Bereiche überlagern sich in der Lebenspraxis. Aus ihr lassen sich meth. konstr.
mathematisches, technisches, politisches und historisches Wissen generieren. Entsprächen
ihnen nicht literarische, musikalische, bildende und performative Kunstfertigkeiten? Ein
konkreter Bezug zu Krieg und Frieden ergäbe sich bspw. mit Erich Maria Remarque und Ernst
Jünger, Joseph Beuys und John Lennon, Käthe Kollwitz und Marina Abramovic.
IT
Am 26.07.2024 um 13:39 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hi IT,
mag sein, daß das Thema schon totgeritten ist oder wir dabei sein, es
totzureiten, und mag auch sein, daß wir gar nicht weit entfernt voneinander sind (aber
ganz ohne Streiten macht es ja auch keinen Spaß), aber ich tendiere doch dazu, etwas
anders zu akzentuieren, um in der Verneinung des "Determinismus" dann vermutlich
doch etwas weiter zu gehen. Denn sobald man von erfolgreichem "Lernen" spricht,
davon, daß etwas "gelingt", ist man ja tendenziell schon wieder bei dem
"Einen, das nottut", bei der einen richtigen und "vernünftigen"
Lösung, auf die alle kommen MÜSSEN. Ich sage hingegen, die kindliche Sprachvariation ist
insofern nicht nur "zufällig" und "spielerisch", sondern (ok, etwas
überpointiert vielleicht) "Protest", weil sie doch der sprachlichen Umwelt sagen
und zeigen will: es geht auch anders, ich muß nicht eure blöden Orthogrammatik-Regeln
beherrschen, ich kann mit eurem Material ganz anders umgehen, und es
"funktioniert" (in Grenzen) eben trotzdem. Es geht ja nicht nur um das
Konstatieren der Möglichkeit von Kontingenz (als philosophische
"Denkmöglichkeit"), sondern es geht darum, die Kontingenzräume aktiv auszunutzen
und auszuweiten, es geht darum, sie sich als MEINE egopraktisch anzueignen. Das hat mit
den gängigen Praxen und Praxeologien und Regeln und Normen der anderen erstmal nichts zu
tun. (Und ich weise auf Freuds Deutung des Kleinkinds als "polymorph pervers"
hin: was ja heißen sollte, daß es in der menschlichen Frühphase auch im Sexuellen eine
Menge von später nicht genutzten - weil gesellschaftlich-moralisch geächteten -
Möglichkeiten/Anlagen/Potentiale gegeben hätte, die dann in der
"Heteronormativität" und der "Genitalfixierung" verschwinden, genau
wie einem eben die Kindersprache spätestens in der Schule ausgetrieben wird.) Die
Literatur (und zwar nicht nur in "aleatorischen Romanen", von denen ich gar
nicht wüßte, was das ist) stellt insofern eher die NORMAL-Form da, denn natürlich geht es
auch da um "Verständigung", aber eben nicht auf solch sklavisch-imitatorisch
exakt nachvollziehende Weise wie in der Wissenschaft. Wissenschaftliches
"Verstehen" ist gerade eine alltagsfremde Extremform sehr rigider
Verstehensnachvollzüge (daher ist es dort meist so leicht, "Fehler" zu entdecken
und nachzuweisen, deswegen kann man das alles so schön schulisch "abfragen" und
"abprüfen"), nur in der ("Normal"-)Wissenschaft ist alles so schön
"paradigmatisch", quasi automatisch selbstreplizierbar, ergänzbar, immer
problemlos anschlußfähig. Das mag man für notwendig und eine wichtige Errungenschaft
halten, aber warum sollte man dieses reduzierte Schrumpfform von "Verstehen" zum
ultimativen Idealmodell von "gelingender" (?) menschlicher Kommunikation
überhaupt hochstilisieren? Alltags- und kunstorientierte literarische Kommunikation
hingegen hat es und macht es sich nämlich deutlich schwerer, sie rechnet ständig mit Ab-
und Ausweichungen, Mißverständnissen, mehr oder weniger produktiven Unklarheiten,
Unschärfen, Halbwahrheiten, Andeutungen, ironischen Distanzierungen usw. usw. Erst hier
wird deutlich, was Kommunikation, Gespräch, Denken, Menschsein wirklich heißt, weit weg
von diesem glatt durchlaufenden und steril-sauber-monoton vor sich hin schnurrenden
Räderwerk namens Wissenschaft.
Das "exakte Verstehen", das Wissenschaft erfordert und ermöglicht, ist eine
radikale Ausnahme; als solche wertvoll und sicher nicht leichtfertig aufzugeben. Aber es
gibt eine (große, weite, schöne, interessante(re)) Welt außerhalb ihrer Grenzen.
JL
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