Hallo,
nach einiger Lektüre bin ich zu einen Gedanken gekommen, den ich hier
zur Diskussion stellen möchte. Ich bitte ausdrücklich um Kritik und
Gegenargumente. Entweder die Gegenargumente bekehren mich zu einer
besseren Ansicht oder ich kann anhand dieser mein Gedanken ein
bisschen schleifen.
Kann es sein, dass es in Sachen Moral zwei Typen von Aufklärern gegeben hat?
Ich würde diese beiden Typen bezeichnen als "amoralische Aufklärung"
oder auch "deskriptive Analytiker" und als "moralische Aufklärung"
oder auch "Ethiker". (Es sollte klar sein, dass mit "amoralisch"
keineswegs gemeint ist, dass diese Leute über keine Moral verfügen
oder zu "unsittlichen" Verhalten aufrufen oder sowas. Es geht um die
Haltung zur Moral als solcher. "Analytiker" wird hier auch im Sinne
einer Analyse, "Auflösung" verstanden.)
Der Unterschied lässt sich verkürzt so darstellen, dass die
"amoralischen Aufklärer" die gesellschaftliche Moral in Soziologie,
Psychologie (mit Erziehung), Ökonomie und, falls überhaupt, eine Prise
Religion "zersetzen" wollen, während die "moralischen Aufklärer"
anstelle der traditionellen Moral eine neue, vernünftig begründete,
"aufklärerische" Moral setzen wollen.
Zu den "moralischen Aufklärern" zähle ich solche Personen wie Kant,
Locke, Hobbes (?) und, soweit meine beschränkte Lektüre reicht,
Holbach. Sicherlich aber Rousseau.
Wobei Holbach nach meiner Kenntnis keine Ethik betrieben hat, aber
wohl zuversichtlich war, dass eine aufgeklärte Ethik eine auf
Vorurteil und Aberglaube basierende Moral bald ersetzen würde.
Bei Locke und Kant ist die Berufung auf das Naturrecht vielleicht
klare Zeichen. Bei Hobbes ist die Einordnung natürlich etwas
umstritten. Einerseits argumentiert er naturrechtlich, andererseits
"zersetzt" er die Moral.
Zu den "amoralischen Aufklärern" zählen die Autoren Hume, La Mettrie,
Hobbes mit seinem Gesellschaftsvertrag, Smith und Montesquieu.
Die "deskriptiven Analytiker" wollen die bestehende gesellschaftliche
Moral (ihrer Zeit) durch sorgfältige Untersuchung auf andere Faktoren
zurückführen. Beispielsweise in Falle von Montesquieu auf soziale und
politische Aspekte, im Falle La Mettries scheint es eher Richtung
individueller Psychologie zu gehen.
Ihre Theorie ist deshalb im Wesentlichen erklärend.
Ein Beispiel: Montesquieu argumentiert, dass in einer aristokratischen
Republik das Erbe möglichst unter allen Nachfahren aufgeteilt werden
sollte, um zu große Ansammlungen von Vermögen zu vermeiden, in einer
Monarchie dagegen sollte das Erbe ungeteilt bleiben.
Aristokratische Republiken erfordern als Prinzip Selbstzucht, Monarchien Ehre.
Hier würde man die Moral auf soziale und ökonomische Faktoren zurückführen.
Der "Ethiker" dagegen finden zunächst eine sichere Quelle der Ethik
und leiten ihrerseits daraus die Moral ab. Beispielsweise bei Locke
("Zwei Abhandlungen über die Regierung") folgt das Erbrecht aus der
Verpflichtung der Eltern, für ihr Kind zu sorgen. Daher sollen sie ihn
sozusagen gewissen Vermögenswerte überlassen dürfen.
Zur Veranschaulichung würde ich zwei idealisierte Vertreter dieser
beider Strömungen mal in einen Dialog zeigen:
Amoralische Aufklärer aka "Analytiker": "Die Moral einer Gesellschaft
ist eine komplexe Verbindung, wie etwa eine bestimmtes Mineral. Wie
man ein Mineral in einer Säure, z. B. Königswasser, in seine Elemente
zersetzen kann, so kann man auch die Moral durch eine logische Analyse
in ihre Elemente auflösen.
Dann kommt heraus, dass die Moral viel mit der Gesellschaft zu tun
hat, die sie hervorbringt und damit lässt sich dann auch erklären,
wieso es beispielsweise zu verschiedenen Zeiten und Ländern andere
Moralvorstellungen gegeben hat."
Moralischer Aufklärer aka "Ethiker": "Die Moral ist nicht komplex,
sondern kompliziert, wie ein langer Satz voller Nebensätze. Es lässt
sich bei genaurer Untersuchung aber sehr wohl der 'Hauptsatz'
herausfinden und dieser ist ein Imperativ. Das Problem ist
desweiteren, dass es auf den Gebiet der Moral nicht weniger Irrtümer
und Aberglaube gibt als auf den übrigen Gebieten.
Auch muss man zwischen bedingten und unbedingten Regeln unterscheiden.
Aus diesen beiden Gründen hat es unterschiedliche Moralvorstellungen
gegeben.
Moral ist normativ, vorschreibend, das ist für sie wesentlich. Wer
glaubt, die Moral analysiert zu haben und dabei das normative Element
einbüßt, der macht mit Sicherheit einen Fehler, weil das Ergebnis der
Analyse nichts mehr mit den analysierten Gegenstand zu tun hat. Es ist
Aufgabe des Ethikers dieses 'reine normative Element' zu destillieren
und möglichst rein zu Verfügung zu stellen."
Analytiker: "Es mag vielleicht sein, dass bei genauen Untersuchung der
Moral die Verbindlichkeit verloren geht, wie etwa eine Uhr, die man
auseinanderbaut um ihre Funktion zu verstehen, diese Funktion dadurch
verliert, aber dies bedeutet ja nicht, dass dabei ein Fehler gemacht
wurde.
Die Moral hat ihre Funktion im Funktionieren einer Gesellschaft, eine
Person auf einer einsamen Insel brauchte keine Moral (Einschub: Außer
gegen Gott).
Dadurch, dass die Menschen die Moral besser verstehen, haben sie die
Möglichkeit diese zu kontrollieren und vielleicht sogar zu verbessern.
Sie müssen ihr nicht mehr abergläubisch anhängen."
Ethiker: "Zur Erneuerung der Moral bedarf man aber wiederum einer
höheren Moral."
Ich glaube, damit habe ich den Widerspruch zwischen diesen beiden
Auffassungen so in etwa herausgearbeitet. Das Problem ist natürlich,
dass es zu so einem direkten "Zweikampf" nie kam und wahrscheinlich
die Autoren doch eher zusammengearbeitet haben oder sich sogar
ignorierten.
Die beiden Strömungen gibt es übrigens bis hinein in die heutige Zeit,
wobei es mehr oder weniger Abstufungen gibt.
Auf der einen Seite haben wir Kantisten, die die Ethik eines
kategorischen Imperatives fordern und auf der anderen Seiten haben wir
Autoren wie de Waal, die Ansätze von Moral schon in unserer
Primatenphylogenese finden.
Natürlich gab und gibt es auch Autoren, die jenseits dieser Einteilung stehen:
- Ich nehme an, dass die streng katholische Ethik sich von beiden
Ansätzen unterscheidet.
Generell dürften christliche oder noch allgemeiner religiös denkende
Autoren mit dieser Aufklärung eher weniger anfangen können.
- Eine Mitgefühlsethik, wie sie Schopenhauer vorschwebte und wohl auch
von einigen Feministen vertreten wird, steht jenseits dieser beiden
Sichtweise, zumindest in erster Instanz.
(Bei Schopenhauer war das Mitgefühl ja die Erinnerung daran, dass wir
ursprünglich mal eins waren, metaphysisch gesehen. Falls man dagegen
das Mitleid streng auf die Evolution von Primaten zurückführt, folgt
etwas anderes und eine Einteilung wird vielleicht möglich, wenn auch
künstlich.)
- De Sade habe ich nicht gelesen, ebenfalls andere Autoren aus der
"freidenkerischen Ecke".
- Alle "Tugendethik" steht im Verdacht, außerhalb zu stehen. Aber ich
müsste mehr lesen in dieser Thematik.
- Moralische Skeptiker (Nietzsche?) dürften ebenfalls nicht darunter fallen.
- Ethische Irrationalisten dürften ebenfalls nichr darunter fallen.
Also Leute, die deutlich wissen, was "richtig" ist und deshalb
Diskussionen gar nicht erst zulassen wollen, sondern auf Gefühle
abstellen.
|-> Dagegen sind die Utilitaristen klar der moralischen Aufklärung
zuzuschlagen. Sie erkennen (oder ließ: "Sie glauben ... zu erkennen")
das "wahre Prinzip" des Guten und wollen eine neue, "aufgeklärte"
Ethik auf dieser Basis errichten. Alle andere moralischen
Vorstellungen verwirft man als unaufgeklärt, als tendenziell von
Vorurteil und Aberglaube bestimmt. Deshalb sollte eine
fortschrittliche Gesellschaft darauf keine Rücksicht mehr nehmen.
|-> Marxisten sind Analytiker. Moral ist bei ihnen, eigentlich, ein
Überbau-Phänomen, dass der Entwicklung der Gesellschaft folgt.
|->Ethische Intuitionisten sind in einigen Fällen Ethiker im Sinne
dieser Einteilung. Sie haben eine wahre Quelle der Moral gefunden und
nutzen diese.
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Was haltet ihr davon? Quatsch, Trivialität oder interessanter Gedanke?
Gruß
Rat Frag.