Am 10.10.2025 um 08:08 schrieb Ingo Tessmann über
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Auf eine Entstehung aus sich selbst heraus verweist aber schon der ägyptische
Ursprungsmythos, zu dem Assmann in „Schöpfungsmythen und Kreativitätskonzepte im Alten
Ägypten“ ausführt: „Nach ägyptischer Vorstellung ist die Welt nicht aus dem Nichts,
sondern aus der Eins entstanden. Diese Ur-Eins heißt Atum. Atum ist die Verkörperung der
Präexistenz.“ Diese wird „ausgedeutet als das bewusstlose Dahintreiben des Urgottes Atum
in der Urflut, dem Nun. … Ihre klassische Ausgestaltung erhält diese Vorstellung vom Chaos
in der Schöpfungslehre von Hermupolis.“ Danach ist das Chaos „kein Nichts, kein gähnender
Abgrund (wie das griechische Wort „Chaos" es ausdrückt), sondern ein Urschlamm voller
Keime möglichen Werdens. Aus diesem Urschlamm erhob sich nach der Schöpfungslehre von
Hermupolis der Sonnengott, wiederum in spontaner Selbstentstehung, als Kind auf einer
Lotosblüte.“ Das Sonnenzeitalter begann schon vor Jahrtausenden im alten Ägypten. Aber was
ist daraus geworden?
Und was ist aus der Wahrheit geworden? Bei Assmann heißt es weiter: „Dieser Moment der
Selbstentstehung wird als „Selbstverdreifachung" gekennzeichnet: „Als er Einer war
und zu Dreien wurde“. Der spätere Text macht klar, dass man sich diesen Vorgang auf keinen
Fall in der Form von Zeugung und Geburt vorstellen darf, indem er den Luftgott Schu sagen
lässt: „Nicht hat er mich geboren mit seiner Faust, nicht hat er mich in Schwangerschaft
getragen mit seiner Faust.“ … Der kosmogonische Augenblick soll nicht als Schöpfung,
sondern als Selbstentfaltung gedacht werden. Schu und Tefnut waren bei Atum vor aller Welt
und bildeten mit ihm zusammen die Ureinheit, die zu Dreien wurde. … Schu die Luft wird als
„Leben" und Tefnut das Feuer oder Licht als „Wahrheit" erklärt.“
Selbstentfaltung zu atmendem Leben und lichter Wahrheit, die mit Sehen beginnt und zu
Wahrnehmung wird. Daran kann noch heute angeknüpft werden, sowohl alltagsbezogen als auch
historisch-genetisch wie evolutionär. Vor rund 8000 Jahren konnten die Menschen vor der
sich ausbreitenden Wüste noch an den kaum besiedelten Nil fliehen. Damals waren es einige
Zehntausend, die an den Nil flüchteten, in diesem Jahrhundert werden es mehrere 100 Mill.
sein, die es in den reichen Norden treiben wird. Damals war die Wüstenbildung durch
Klimawandel in Nordafrika naturbedingt, heute ist der Klimawandel weltweit
menschengemacht. Inwieweit könnte das Lebensgefühl der damaligen mit den heutigen
Klimaflüchtlingen verglichen werden?
Ken Follett lässt ja in seinem Roman „Stonehenge“ rivalisierende Clans aus der
Jungsteinzeit um knappe Ressourcen kämpfen. Eine Dürre-Katastrophe verschärft die Krise,
aber eine so visionäre wie durchsetzungsfähige Hohepriesterin vermag männliche
Gewalttätigkeit in das riesige Gemeinschaftsprojekt einer Steinkreisanlage umzuleiten.
Derartige Gemeinschaftsprojekte gab es mit den Pyramidenbauten auch im alten Ägypten. Und
im letzten Jahrhundert gab es das Manhattan-Projekt und das Apollo-Programm. In diesem
Jahrhundert sollte es ein weltweites Gemeinschaftsprojekt auf den erneuerten Weg ins
Sonnenzeitalter geben, aber unter welchem einigenden Titel?
In „Was wir wissen können“ hat Ian McEwan seine düstere Zukunftsvision ins Jahr 2119
projiziert, „in eine Welt, in der man aus heutiger Sicht lieber nicht leben möchte, die
aber durchaus vorstellbar ist. Da ist von begrenzten Atomschlägen die Rede, von einem
Amerika im Bürgerkrieg und einer großen Überflutung im Jahr 2042, ausgelöst von einer
fehlgeleiteten russischen Wasserstoffbombe. Großbritannien ist seitdem zu einer
Archipel-Republik zusammengeschrumpft. In der sitzt nun der englische Literaturprofessor
Tom in einer hochgelegenen Bibliothek, erforscht die versunkene Welt und versucht, sie
seinen Studenten nahezubringen.“ Weiter heißt es bei Bettina Baltschev vom MDR: „Toms
Spezialgebiet ist die Literatur der Jahre 1990 bis 2030, allerdings ist es da besonders
ein Mann, der ihn fasziniert: Francis Blundy. Den hält er für einen der größten Dichter
des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Allerdings ist sein wohl wichtigstes Werk
verschwunden, der "Sonettenkranz für Vivien", den er seiner Frau gewidmet hat.
Nur an einem Abend unter Freunden im Jahr 2014 war der Gedichtzyklus vorgetragen und
danach zum Mythos verklärt worden. Aus Briefen, Tagebüchern und über 200.000 SMS versucht
Tom, diesen legendären Abend zu rekonstruieren und wäre nur zu gern dabei gewesen. Der
Mann der Zukunft ist von einer Sehnsucht erfüllt, die uns Gegenwartsmenschen zu denken
geben sollte.“
Demgegenüber hat Sibylle Berg gerade eine Vision vom schönen Leben veröffentlicht: „La
Bella Vita“ PNR, das für Wiederaufbau steht: „Piano nazionale di ripresa e resilienza. Der
Nationale Aufbau- und Resilienzplan (PNRR) ist das Instrument, mit dem Italien die
europäischen Mittel aus dem Programm Next Generation EU nutzt, um sich von der
Pandemiekrise zu erholen und das Land zu modernisieren, mit einem Schwerpunkt auf
ökologischer und digitaler Transformation.“ Nina Wolf vom SWR kommentiert: „Das Europa,
das Berg in "PNR" entwirft, ist befreit vom Kapitalismus, von faschistischen
Regierungen, von Parteien, von Regierungen überhaupt. Haupthandlungsort des Romans ist
Italien. Die Gesellschaft dort ist selbstorganisiert, frei, eben anarchisch: 'Die neue
Gesellschaftsordnung, die ich mir ausgedacht habe, basiert auf sehr vielen, bereits
vorhandenen wissenschaftlichen Denkexperimenten von David Graeber über
Wissenschaftlerinnen, die neue Ernährungsformen, neue Formen des Zusammenlebens, der
Ökologie erforscht haben'.“ Selbstorganisiert ging schon die Welt der alten Ägypter
aus dem Urschlamm hervor; aber das war nur eine rückprojizierte Vision und so wird auch
die Zukunftsprojektion „La Bella Vita“ eine Vision bleiben.
IT