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Am 19.11.2024 um 16:15 schrieb Ingo Tessmann über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hi KJ,
ich hatte mit Bezug auf die von Thomas als rein bezeichnete Mathematik an Joseph
geschrieben: „Es gibt reine und angewandte Mathematik. Womöglich hat Thomas die Angst der
reinen vor dem Schmutz der angewandten Mathematiker parodieren wollen. Ich assoziierte mit
dem Schmutz die Angst der Spießbürger vor der natürlichen Unsauberkeit der Welt. Zudem
kamen mir die „moralischen Module" Fürsorge, Fairness, Freiheit sowie Loyalität,
Autorität, Reinheit in den Sinn; den Grundbedingungen für Demokratie und Republik sowie
Religion und Faschismus.“
Wie konntest Du mich nur so missverstehen? Ich bewundere die reine, schätze aber auch die
angewandte Mathematik; insofern hielt ich Thomasens Bemerkung für parodistisch. Anders
als den Spießbürger ängstigt mich nicht die natürliche Unsauberkeit der Welt und von
religiöser wie faschistischer Reinheit halte ich auch nichts.
Beruflich arbeitete ich hauptsächlich im
Übergangsbereich zwischen angewandter Informatik und numerischer Mathematik.
Was Dein und mein berufliches Tätigkeitsfeld anbelangt, haben wir beide einen hohen Grad
an Kongruenz, im deutlichen Unterschied zu unseren gesellschaftspolitischen Ansichten.
Dass ich gerne die reine Mathematik lobe, liegt daran,
dass sie häufig verächtlich behandelt und immer wieder bloß nach irgendeinem Nutzen
gefragt wird. Das betrifft für mich Wissenschaft und Kunst allgemein. Um den Nutzen geht
es in Alltag und Politik, Wirtschaft und Technik; in Wissenschaft und Kunst geht es um
Wahrheit und Schönheit, Erkenntnis und Provokation. Übergreifend dabei ist das Spielen,
bei dem Cardano ja auch die von ihm so genannten fiktiven Zahlen fand. Z.B. finde zwei
Zahlen, deren Summe 10 und deren Produkt 40 ergibt! D.h. x (10 - x) = 40. Lösung: x = 5 +
sqrt( - 15) oder x = 5 - sqrt( - 15) . Vergegenwärtige Dir einmal, was aus dieser
Zahlenspielerei alles geworden ist!
In der Physik wird bspw. mit imaginärer Zeit und komplexen Wahrscheinlichkeitsamplituden
gerechnet. Mathematik ist für mich nicht das Wichtigste, aber ebenso wichtig wie die
Umgangssprache.
Mein Fachgebiet der Nachrichten-/Informationstechnik war in Studium und Beruf nichts
anderes als pure Mathematik, insbes. natürlich der Bereich komplexer Zahlen,
Fourieranalyse aber auch der digitalen Logik.
Doch schon im NT/IT-Studium hatte ich Philosophie/Psychologie als Nebenfächer, um mich
später noch für diese als Hauptfächer zu immatrikulieren. Das hatte fatale Folgen für den
Privatbereich, denn wer will schon mit einem „Bücherwurm“ durchs Leben gehen? Dabei wollte
ich partout nicht zum Homo Faber werden. Doch ohne „Scheine“ geht halt nix im beruflichen
Fortkommen und wenn dann das ganze gelernte Zeug kaum noch eine Rolle spielt, weil man in
Führungspositionen mit ganz anderen Herausfordernden konfrontiert wird, kommt zwangsläufig
die Erkenntnis, wie ich sie kürzlich hier angesprochen habe: Wissen ist nicht
gleichzusetzen mit Begreifen im Sinne des Umgreifens der gesamten Lebenssituation.
Ebenso gilt das für Wissenschaftsbereiche, in diesem Fall den natur- wie auch den
geisteswissenschaftlichen Disziplinen: Wissen ohne Begreifen reicht nicht hin oder eben
auch: Was nicht gewusst ist, kann selbstredend nicht begriffen werden, hierzu bedarf es
immer hinreichender Inferenz des gelernten Wissens.
Da bietet es sich nun an, auf den kürzlich hier eingebrachten Hinweis einzugehen, wir (die
Menschheit) würden nur einen winzigen Bruchteil dessen wissen, was eigentlich zu wissen
wäre. Hier könnte man mit Ruth Kastner sagen, dass wir die Wahrheit dieser Lebenswelt
ohnehin nicht ergründen können.
Dennoch scheiden sich hier die Geister, resp. die Ansichten. Ich denke, dass insbesondere
in den Naturwissenschaften ein sehr hohes Maß an Wissen und auch Verständnis über Welt und
Kosmos existiert. Dieses Wissen wird nun noch durch weltumspannenden Austausch
komplettiert und vor allem auch evaluiert. Welche Konsequenzen aus diesem Wissen (insbes.
bezogen auf die Technikfolgenabschätzung hinsichtlich des globalen Klimawandels) werden,
wird sich zeigen.
Doch nochmal zurück zu Kastners Wahrheitsbegriff: Sie hatte den Vergleich mit einem
Eisberg, dessen sichtbarer Teil die Lebensrealität und der nicht sichtbare Teil den eben
nicht erkennbaren (quasi metaphysischen) Bereich darstellt.
Erst die Zusammenschau beider Bereiche (sub- und überempirisch) würde die ganze Wahrheit
abbilden. Das zwingt natürlich zu gewisser Demut, eben den Umstand betrachtend, dass die
Natur-Wissenschaft zwar die Tür zur nicht-physischen Realität geöffnet hat, diesen Bereich
jedoch mit den diesbezüglich herkömmlichen Methoden nicht in seiner Tiefe ergründen kann.
Nach wie vor ist somit eine klare Abgrenzung zwischen den Bereichen der Physik (den
messbaren, begreifbaren Phänomenen) und der diese Physik übersteigenden Phänomene als eben
der Metaphysik gegeben. In diesem Zusammenhang steht auch die Suche nach einer großen
vereinheitlichten Theorie (Grand Unified Theory).
Auch Waldemar sucht immer noch nach Wechselwirkungen (stark, schwach, elektromagnetisch)
und übersieht vor lauter (Wissens-)Körnchen dabei das emergente Geschehen von Gott und
Welt. Das ist aber nun spasshaft gemeint.
Ernsthaft suchen wir alle, fragt sich nur, nach was. Der eine nach Glück, der andere nach
Geld, wieder ein anderer nach Liebe usf.; Endet dieses Suchen stets mit Erfolg im Hinblick
auf den biblischen Hinweis? - Wer suchet, der findet!
Wenn bei der Suche Wissen entsteht, führt dies notwendigerweise auch zum Finden und damit
zum Begreifen? Ist damit das menschliche Bedürfnis nach Konvergenz, die unermüdliche Suche
(längst nicht aller Menschen) nach einem Telos zu erklären?
Damit schliesst sich wieder der Kreis zu Wissen und Begreifen und man möchte fragen, ob
trotz des mittlerweile enorm angewachsenen Wissensfundus, die stets gesuchte Wahrheit in
ihrer Ganzheit ergründet werden kann, oder diese dem Menschen grundsätzlich verborgen
bleibt (Du Bois-Reymond).
Unbenommen dessen, ob ein Mensch nun sucht oder nicht, doch gesetzt der Fall, bedarf
dieses Suchen der Zeit(sic!) und sogleich stellt sich die Frage, ob ein Menschenleben
ausreicht, um das jeweils Gesuchte (z.B. Lebenssinn) für sich zu finden. Ist der Sinn von
Leben schlichtweg selbiges?
Suchen ist Arbeit und kostet Zeit, somit Lebensleistung als Arbeit pro Zeit. Für
erfolgreiche, gute Arbeit braucht es gute Werkzeuge, je besser diese sind, desto kürzer
die dafür benötigte Zeit. Mathematik ist so ein Werkzeug und obendrein exzellent, aber
dennoch nur Werkzeug und nicht das Maß aller Dinge. Darauf wollte ich hinweisen und Dich
definitiv nicht missverstehen.
Bester Gruß! - Karl