Hi JL,
ich hatte hinsichtlich des meth. Konstr. aus einem Vortrag Lorenzens von 1989 zitiert:
„Die konstruktive Wissenschaftstheorie ist eine Theorie der Notwissenschaften, derjenigen
Wissenschaften, die zur Sicherung des Friedens ohne Armut nötig sind.“ Mit Bezug auf sein
Lehrbuch von 1987 fährt er fort: „Das Lehrbuch stellt dar, wie aus der praktischen Aufgabe
eines Friedens ohne Armut die ersten Begriffe mathematisch-technischer und
historisch-politischer Wissenschaften schrittweise gelehrt werden können. Das Buch ist -
anders ausgedrückt - eine Prinzipienlehre von Wissenschaften, die an technischer und
politischer Praxis orientiert sind: Politik für den Frieden und Technik gegen die Armut.“
Die an Praxis orientierte Prinzipienlehre ist noch keine Erkenntnistheorie, sondern
ermöglich allererst Theorie. Du scheinst den synthetischen Ansatz des meth. Konstr.
grundsätzlich analytisch missverstanden zu haben.
Auf die sprachkritische folgte die praktizistische Wende, die sich an „technischer und
politischer Praxis orientiert“. Schon Einstein hatte Wissenschaft als Verfeinerung des
Denkens des Alltags verstanden, für Lorenzen geht es weitergehender um eine
Hochstilisierung von Lebenspraxis überhaupt: „Die ersten Teile jeder Sprache müssen
empraktisch gelehrt werden, z.B. Ein-Wort-Imperative in Handlungszusammenhängen wie einer
steinzeitlichen Jagd - oder eines Ballspiels von Kindern. Ein Lehrbuch kann diese Praxis
nicht ersetzen, es kann nur an schon gelerntes Handeln erinnern: durch eine Beschreibung
des Handelns.“
Den Indikativen gehen die Imperative voran. Bevor Menschen sich beschaulichen
Betrachtungen überlassen können, müssen sie ersteinmal in Handlungszusammenhängen
Nachahmungen gefolgt sein und Aufforderungen verstanden haben. Insofern schwingt der
Kasernenhofton auch im Hörsaal nach. Krieg und Frieden scheinen eine gemeinsame Grundlage
zu haben. Der Übergang zwischen Jagd und Krieg ist ebenso fließend wie der zwischen
Lagerfeuer und Frieden.
Wiederholt hatte ich auf einen Vortrag Lorenzens von 1976 Bezug genommen:
„Wissenschaftstheorie und Politikberatung. Die gegenwärtige Ohnmacht der pädagogischen
Gewalt.“ Darin wird Politik als die Praxis der Gesetzgebung definiert, deren Ziel es sei,
die Gesetze gerechter zu machen. Dabei heiße eine Norm gerecht, „wenn sie bei
transsubjektiver Beratung die Zustimmung aller Betroffenen finden würde.“ Dem Ideal einer
geometrischen Form entsprechend habe auch die Politik ein Ideal: die Gerechtigkeit. Und
die „Überprüfung geltender Normensysteme auf in ihnen steckende Ungerechtigkeiten“ ist
eine wissenschaftliche Aufgabe“, sowohl staats- wie völkerrechtlich.
Gerechtigkeitsverhalten ist bereits bei Affen und Kleinkindern beobachtbar; dennoch fragt
sich Werner Gutmann in seiner Diss.: „Gerechtigkeit, ein westliches Projekt?"
Den Dissens zwischen uns sehe ich in Deiner eher deskriptiv-analytischen und meiner eher
präskriptiv-synthetischen Wissenschaftsauffassung. Auch dazu gibt es einen lesenswerten
Artikel Lorenzens: „Szientismus versus Dialektik“ von 1970. Darin nimmt er Bezug auf den
Positivismus- wie auf den Wertfreiheitsstreit. In der Summary heißt es: "The
discussion "scientism vs. dialectic" centers around the problem of
value-judgements since Max Weber. Scientism holds the thesis that in all scholarly
disciplines (whether politics, economics, law or the sciences) the value-free methods of
the sciences should be followed. The dialectical scholars, following Kant, Hegel and Marx
claim on the other hand the primacy of practical reason, i.e. that reason can (and should)
justify norms.“ Und: "Material norms are justifiable only by investigating the
genesis of the cultural situation in which they are applied. This leads, in a critical
reconstruction of a method of Hegel (especially in his "philosophy or right"),
to the formulation of a "dialectical" method as a spiral movement from factual
geneses to normative geneses. By this method philosophy does not prescribe any
"values" but prescribes how the cultural sciences should proceed in establishing
material norms.“
IT
Am 22.07.2024 um 19:12 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
ich finde es merkwürdig, daß du da von einem etwas kruden erkenntnistheoretischen Ansatz
auszugehen scheinst, wenn du offenbar meinst, daß man, wenn man beim Denken "vom
Krieg ausgeht", dann auch kriegerisch DENKEN muß; also daß praktisch der
Kasernenhofton dann auch in der Kriegstheorie widerhallt. Das ist, wie wenn man behaupten
würde, jede Analyse von erbaulicher Literatur sei immer nur erbaulich, jede Analyse von
Pornographie sei zwangsweise pornographisch, jede Analyse von Faschismus sei grundsätzlich
faschistisch... Aber so wie die Kulturwissenschaft schon lange das Vorurteil überwunden
hat, daß die Beschäftigung mit "populärer Kunst" (früher.
"Schundliteratur") nur populär oder populistisch oder schundhaft ausfallen kann,
so wird eine Theorie der "internationalen Beziehungen" (wie man den Oberbegriff
fassen könnte) sich von der ernsthaften, "realistischen" Beschäftigung mit dem
Krieg nicht wegducken dürfen. Und "wegducken" tut sich m.E. auch, wer da
allzuschnell an mögliche ideale Normen appelliert. Denn die "Gerechtigkeit"
bleibt ja nicht gleich "auf der Strecke", wenn wir sie NICHT als
selbstverständlichen Ausgangspunkt, sondern vielleicht eher als höchst unwahrscheinlichen,
fragwürdig-fragilen, kaum näher bestimmbaren, wenig präzisen Gesichtspunkt (als Appell,
Propaganda, strategische Finte, jedenfalls immer nur mit legitimatorischer Absicht
eingesetzt) klassifizieren, der ab und an von Kriegsparteien tatsächlich ins Spiel
gebracht wird (mit welchen je eigenen Interessen und Hintergedanken auch immer). Das IST
"Gerechtigkeit" in der Kriegsanalyse erst einmal, mehr nicht. Leider.
(Und Kant wußte das noch: er versucht es nämlich gar nicht erst realistisch-deskriptiv,
sondern versetzt sich von Anbeginn in den normativen Modus: er sagt: so MÜSSTE eine
friedliche Weltordnung aussehen, auf folgenden Vereinbarungen SOLLTE sie beruhen, folgende
sechs "Präliminartikel", folgende "Definitivartikel",
"Zusätze" usw. SOLLTEN von allen unterschrieben werden, usw. Sein Buch vom
"ewigen" (!) Frieden ist ein vollständiges Buch im Konjunktivus Irrealis, im
Wunschmodus, von Anfang bis Ende. Kann man so machen; natürlich kann man immer mal wieder
ein schönes Wunschbuch schreiben. Aber dann erklärt man nichts: vor allem nicht, warum
sich bis heute niemand daran hält.).