Am 30.10.2021 um 12:00 schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
"Im zweiten Experiment wurden zuerst zehn Gegenstände hingelegt, dann
wurde einer weggenommen. Nun antwortete einer der Pirahã „hói“ (das
als „eins“ gedeutete Wort). Nachdem man drei weitere Gegenstände
entfernte, stimmten alle Befragten darin überein, „hoí“ zu benutzen.
Frank und seine Kollegen vermuteten nach diesen unterschiedlichen
Mengenangaben, dass es sich also nicht um Zahlwörter, sondern eher um
relative Mengenbezeichnungen handele.
Darüber hinaus gibt es im Pirahã keine Numeri und daher keine
Möglichkeit, anzugeben, ob es sich um Einzahl oder Mehrzahl handelt."
Seite „Pirahã“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie.
Bearbeitungsstand: 25. September 2021, 11:24 UTC. URL:
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Pirah%C3%A3&oldid=215878450
(Abgerufen: 30. Oktober 2021, 09:28 UTC)
Das lässt demnach die Deutung zu, dass wir gewisse Dinge, wie
Mengenunterscheidungen, nicht verbalisieren können, sondern es erst
lernen müssen.
Hi RF,
im genannten Lehrbuch zur Entwicklungspsychologie heißt es zusammenfassend: „Die Theorie
der zwei distinkten numerischen Kernwissenssysteme besagt, dass menschliche Säuglinge
ebenso wie manche Tiere mit zwei verschiedenen, evolutionsgeschichtlich alten,
rudimentären Systemen numerischer Kognition ausgestattet sind, die beide in ihrer
Leistungsfähigkeit eng begrenzt sind. Das analoge System erlaubt nur die approximative
zahlenmäßige Unterscheidung von größeren Mengen und funktioniert umso schlechter, je
kleiner der proportionale Unterschied zwischen den zu unterscheidenden Mengen ist. Das
exakte System hat eine enge Obergrenze bei drei bis vier Elementen. Um das
Zahlverständnis Erwachsener zu erwerben, müssen die Grenzen dieser beiden evolutionär
angelegten Systeme durch expliziten Wissenserwerb überwunden werden.“
Die Pirahã sind hinsichtlich der Mathematik offensichtlich nicht über das Babystadium
hinausgekommen und lebten auch ohne Mathematik womöglich zufrieden vor sich hin — bis die
Europäer kamen. Worauf es mir aber ankam, war der Verweis darauf, dass die Mathematik
vorsprachliche Wurzeln in den numerischen Kernwissenssystemen hat und nach Lorenzen
operativ weiter sprachunabhängig erlernt werden könnte.
In seinem Buch „Die Entstehung der exakten Wissenschaften“ hatte sich Lorenzen 1960 auch
zur Wissenschaftsgeschichte geäußert: "Innerhalb der Schrift verdienen die
Zahlzeichen eine eigene Behandlung. Schon in der Altsteinzeit finden wir gelegentlich
Strichgruppen IIIII eingeritzt, einmal sagar elf solche Gruppen nebeneinander. Folgt
daraus, daß in der Sprache ein Wort für 55 vorhanden war? Ich glaube nicht. Wer von uns
kennt denn etwa ein Wort für l0^80? Die Zahlzeichen sind nicht nur geschriebene Wörter,
sie sind der Anfang einer Kunstsprache.“ Im Gegensatz zu unseren steinzeitlichen Vorfahren
haben es die Pirahã wohl noch nicht einmal zu Strichgruppen gebracht.
IT