Am 12.07.2018 um 14:30 schrieb Rat Frag via Philweb:
(...) Kann es sein, dass es in Sachen Moral zwei Typen
von Aufklärern gegeben hat?
Ich würde diese beiden Typen bezeichnen als "amoralische Aufklärung"
oder auch "deskriptive Analytiker" und als "moralische Aufklärung"
oder auch "Ethiker".
***
Was haltet ihr davon? Quatsch, Trivialität oder interessanter Gedanke?
Niemals Quatsch, ist doch jedes Hinterfragen, Erörtern, Diskutieren die
Voraussetzung zu hinreichend gesichertem Erkenntnisgewinn.
Was nun Moral als Sache anbelangt, wäre es hilfreich, sich zunächst kurz
über die Einordnung des Begriffs zu verständigen. Es liegt weit zurück,
als man mich lehrte, es gäbe unzählige Moralen, jedoch nur eine Ethik.
Das brachte mich dazu, fortan die Begriffe Moral und Ethik nicht synonym
zu gebrauchen so wie es wohl ursprünglich (vermutlich mit dem Übergang
vom griechischen zum lateinischen Sprachgebrauch) tatsächlich auch
gebräuchlich war und bis heute geschieht.
Für eine fundierte Betrachtung dieses Themenkreises ist jedoch eine
Unterteilung hilfreich, wie sie sich im wissenschaftlichen
Sprachgebrauch etabliert hat (wie immer gibt es Ausnahmen, z.B.
Habermas, teilw. auch bei Schopenhauer).
Unter Moral wird demnach ein Normensystem verstanden, welches auf
vernunftbasiertes, „richtiges“ Handeln mit Anspruch auf
Allgemeingültigkeit abzielt. Unterschiedliche Normensysteme bedingen
verschiedene Moralen, die wissenschaftlich in Teildisziplinen der Ethik
(deskriptiv, normativ) als übergeordnete Ebene, vornehmlich in der
Moralphilosophie, wie auch u.a. in der Soziologie und Theologie
behandelt werden.
Kurz gesagt könnte man mit Thomas Mann sagen, Ethik sei die Lehre von
den Handlungen der Menschen, die Lehre vom Guten und Bösen. Schließlich
noch der Begriff Ethos, der für tradierte Moralen steht, deren Belange
sich auf bestimmte Bereiche, Institutionen oder Personengruppen beziehen
(Berufsethos, Wissenschaftsethos etc.).
Moral nun in Bezug nehmen für eine kategorisch wertende Typisierung
„amoralischer vs moralischer Aufklärer“ könnte insofern verfänglich
sein, da unter „amoralisch“ in unserem Sprachgebrauch zuvorderst ein der
Sittlichkeit widersprechendes Verhalten angenommen wird. Amoralität
steht neben Immoralität für die Unsittlichkeit, Egoismus, Nichtbeachtung
verbindlicher Normen wie auch Ablehnung von Tugend und Mitleid.
Im englischen Sprachgebrauch wird deutlicher unterschieden zwischen
„amoral“ und „immoral“, wobei letzterer Begriff für den Bruch von
Moralgesetzen, ersterer für grundsätzliche Ablehnung diverser
Moralprinzipien steht.
Die grundsätzliche Rückweisung von Moralismen insbesondere aber die
(glückliche) Abkehr von einem vorherrschenden scholastischen Welt- und
Denkbild mit seiner dogmatisch verordneten Moral und vornehmlich einem
von Religion und div. Staatsformen verordneten blinden Gehorsam wird dem
Amoralismus zugeordnet. Ein Großteil der Aufklärer des 18. Jahrhunderts
hat jedoch Moral an sich nicht grundsätzlich abgelehnt. In erster Linie
wurde an die Vernunft des Menschen appelliert, sich aus Unmündigkeit,
von Absolutismus und Aberglauben zu befreien, und sich den Ideen der
Aufklärer im Sinne von Freiheit, Humanismus und Menschenrechten zu öffnen.
Das Spannungsverhältnis oder auch die Ambivalenz zwischen Amoralisten
und Moralisten kann man beispielhaft bei Nietzsche sehen. Er wird als
Amoralist gesehen, was sich durch seine rigide Ablehnung jeglicher
moralischer Bestimmung rechtfertigt. Selbst die Mitleidsethik seines
„Lehrmeisters“ der frühen Jahre, Schopenhauer, blieb ihm fremd.
Nietzsche ist dennoch auch Moralist, wo er die gesellschaftlichen
Wirklichkeiten seiner Zeit als Hybris und Gottlosigkeit kritisch
beschreibt und damit letztlich auf Moral im Kontext ihres elementaren
Begriffspaares „Gut und Böse“ (gute Dinge - schlimme Dinge) abhebt:
/„Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir
heute stolz sind; selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen
gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht
Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und
Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind,
welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer
Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze
Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen
und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris
ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen
Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der
Ursächlichkeit – wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem
Elften sagen »je combats l'universelle araignée« –; Hybris ist unsre
Stellung zu uns, – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit
keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig
die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am »Heil« der
Seele! Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir
zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, – die Krankmacher
scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und
»Heilande«. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir
Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben
nichts Anderes sei, als Nüsseknacken; eben damit müssen wir nothwendig
täglich immer noch fragwürdiger, würdiger zu fragen werden, eben damit
vielleicht auch würdiger – zu leben?... Alle guten Dinge waren ehemals
schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden.“
(Nietzsche, Zur Genealogie der Moral)/
Mit diesem Zitat möchte ich zunächst unterbrechen, gibt es doch
reichlich Gelegenheit über Moral nachzudenken sowie in diesem
Zusammenhang darüber zu sinnieren, ob unsere gesellschaftlichen
Lebensumstände heute, eineinhalb Jahrhunderte später nicht exakt ebenso
beschrieben werden müssen. Das bringt uns Nietzsches Auffassung von der
ewigen Wiederkehr nahe, also den Gedanken daran, dass alles Geschehende
immer schon existierte und sich auf alle Zeit wiederholt, wie
gleichermaßen auch Kants Begriff von Zeit: /Verschiedene Zeiten sind nur
Teile derselben Zeit. An sich und in Wahrheit ist alles zugleich./
Also doch: amor fati?
Bester Gruß in die Runde!
Karl