Lieber Ingo, lieber Waldemar,
vielen Dank für Eure Hinweise.
In beiden Fällen (Maturana, Spencer-Brown) wird wird ein Beobachtetes mit einem Beobachter
kombiniert, und damit Deuten (bei Spencer-Brown als Unterscheiden mit dem Implikat des
gemeinsamen Grundes und des auf diesem gedeuteten Unterschied von Innen zu Außen) ins
Spiel gebracht.
Beide haben auch eine unausgefeilte, aber immerhin grundsätzlich dynamische Auffassung,
bei Spencer-Brown, indem er den Vorgang des Deutens ins Spiel bringt, und indem er ein
re-entry für möglich hält, bei den Kybernetikern entsprechend als feed back.
Bei Spencer-Brown wird zudem eine zugrunde liegende Kraft ausdrücklich gemacht, indem er
sie als Motiv, eine Unterscheidung zu treffen anspricht.
Beiden genügt allerdings ein unausgereiftes Konzept von Potentialität, Zeit und Zeiten -
das ist nicht ihr vorrangiges Thema.
Immerhin arbeitet Spencer-Brown nicht mit abstrakten Punkten, sondern mit als Innen
markierten Volumina. Das Zeitkonzept bleibt aber das von Punkten, von denen Zeitlinien
ausgehen, die auch zurückgebeugt sein können - aber es sind Punkte und deren Iteration als
Linien, keine mehr oder weniger umfassenden Grenzen, die ein „Innen“ konstituieren, wenn
ich es richtig verstehe.
Damit gibt es, - jetzt wird es schräg - auch keine „Einleibung“ (neue Phänomenologie,
Hermann Schmitz) in ein Innen, im Sinn nicht einer bloßen Addition, sondern einer
Wechselwirkungs-basierten Anpassung, Abstimmung, Konformationsänderung etc. Die
betrachteten Elemente bleiben unbewegt, das Innen wird nicht als Potential und Quelle
aufgefasst, es strömt nichts….
Die Sphären-Trilogie von Sloterdijk benennt immerhin Volumina statt Punkten, und bietet
eine Fülle von Stoff, aber eine stringente Systematik, z. B. wie es zur (in meinen Augen
richtig gesehenen) „Kugelförmigkeit" der gefüllten Volumina, zu einer zentrischen
Geometrie komme ist nicht das Ziel des Autors, insofern ist es ein Schritt in die richtige
Richtung, nur geht es halt nicht weiter….
Auf den Beitrag von Spencer-Brown, die Logik des Heraushebens eines distinkten Innen
betreffend sind wir in unseren bereits erwähnten Artikeln zum biopsychosozialen Modell der
Medizin eingegangen. Hier haben wir (wir heisst, die Arbeiten von Arbogast Schmitt
aufgreifend und ihn die Aussagen prüfen lassend) auch den Kontrast dieser angesprochenen
Formen von Hermeneutik zur cartesischen perceptio clara et distincta herausgearbeitet.
Viele Grüße,
Thomas
Am 19.01.2021 um 11:37 schrieb Ingo Tessmann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Hi Waldemar,
ich halte das viele Geschreibe von und um „Autopoiesie“ (und „Information") ja für
ein gigantisch aufgeblasenes Geschwafel. Deshalb zielte meine Frage darauf, ob es so etwas
wie einen rationellen Kern gebe. Bei Haken ist es ja der Laser, der für die ganze
Synergetik stehen könnte. Ebenso nachvollziehbar ist die Hoschstilisierung der
Alltagspraxis zur Wissenschaft bei Einstein und Lorenzen. Und der rationelle Kern der
Rückkopplung ist ja schon im Fliehkraftregler Watts zu sehen, aus dem dann Maxwell bereits
eine mathematische Theorie machte. Seine Abhandlung "On Governors" erschien
1868, wurde aber erst durch die 1948 veröffentlichte Untersuchung "Cybernetics: Or
Control and Communication in the Animal and the Machine“ Wieners in der scientic community
zur Kenntnis genommen. Und ebenso aufgeblasen scheint mir die Sphären-Trilogie Sloterdijks
zu sein. Obwohl darin auch viel Witz und Ironie stecken dürfte und zudem eine
Naturalisierung ihren Ausgang nehmen könnte: Von der Blastula zur Fruchtblase, vom Seifen
blasenden Kind zur Physik der Grenzschichten und kritischen Phänomene - und "money is
a gas“ sangen Pink Floyd einst, wobei die Spekulationsblasen tatsächlich gasdynamisch
simuliert werden können.
In "Humberto Maturana and Francisco Varela's Contribution to Media Ecology“ von
Ronan Hallowell ist zu lesen: "Maturana coined the term autopoiesis around 1970. The
empirical data that prompted Maturana's first conceptions of the process of
autopoiesis were rooted in early laboratory work. One of his first deep explorations of
neurophysiology, which set the stage for his eventual shift in epistemological
perspective, began with his 1958 Ph.D. dissertation on the neurophysiology of perception
in the frog (Maturana, 1958). In a famous paper entitled "What the Frog's Eye
Tells the Frog's Brain“ Maturana and co-authors "demonstrated, with great
elegance, that the frog's visual system does not so much represent reality as
construct it. What's true for frogs must also hold for humans, for there's no
reason to believe that the human neural system is uniquely constructed to show the world
as it ‚really' is.“ Das ist doch hochinteressant; denn der Frosch war ja schon bei
Galvani und Ritter zu Zeiten Goethes und Shelleys Untersuchungsgegenstand. Als
"Pudels Kern" der aufgeblasenen „Autopoiesie“ entpuppt sich der Frosch!?
https://hearingbrain.org/docs/letvin_ieee_1959.pdf
Erheitert grüßt
Ingo
Am 18.01.2021 um 21:31 schrieb waldemar_hammel
<waha3103x(a)googlemail.com>om>:
Am 18.01.2021 um 16:27 schrieb Ingo Tessmann:
Gibt so etwas wie ein "exemplarisches Experiment“ (wie in der Physik verbreitet)
auch in der Biologie Maturanas? Er soll ja mit der Sinnesphysiologie begonnen haben.
hallo ingo,
da müsste/sollte ich mal nachsehen, aktuell ist mir dazu nichts bekannt ...
ich beschäftige mich zb mit sowas (wobei ich zb mit weiten teilen unten nicht
d'accord gehe):
https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/15060/eks.pdf?sequenc…
<https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/15060/eks.pdf?sequence=1&isAllowed=y>
das alles heißt ja nur, zusammengefasst, "nix genaues weiß man nicht" ...,
aber interessant, die "laws of form"von GSBrown
wiki:
Laws of Form (ausdrückbar als "|.")
Hauptwerk Spencer-Browns sind die Laws of Form (deutsch: Gesetze der Form) aus dem Jahr
1969. Es behandelt klassische Probleme der Logik in einer heute unüblichen
Herangehensweise. Das Besondere ist, dass Spencer-Brown für seine „Gesetze“ lediglich zwei
verschiedene Zeichen benutzt: zum einen das bekannte Gleichheitszeichen, zum anderen eine
Art Negations- oder Abgrenzungs-Operator.
Das Buch ist unter Experten umstritten: Die einen betrachten es als genial, andere als
zwar originell, aber vom Erkenntniswert banal, weil es lediglich eine operationale
Umformulierung der Aussagenlogik darstelle. Tatsächlich folgt der Kalkül früheren
Versuchen von Charles Sanders Peirce und Maurice Sheffer, die Boolesche Algebra mit nur
einem Zeichen zu schreiben. Spätere Arbeiten von Peirce, zunächst entitative, dann
existentielle Graphen zu schreiben, mit denen dieses Ziel weiterverfolgt werden konnte,
blieben Spencer-Brown nach eigener Aussage unbekannt.
Die Originalität des von Spencer-Brown in den Laws of Form entwickelten Calculus of
Indications liegt in der Einführung des unmarked state und der Entdeckung seiner
Bedeutung. Erst mit dem unmarked state wird der Kalkül selbstreferenz- und
paradoxietauglich. Auf dem Umweg über the void führt die Form der Unterscheidung zurück
auf den Beobachter, der die Unterscheidung trifft. Dabei wird die Unterscheidung – und mit
ihr der Beobachter – jedoch zugleich, was sie nicht ist, eine Referenz auf die
Ununterscheidbarkeit als Voraussetzung jeder Unterscheidung. Die Laws of Form haben unter
anderem das Denken der Wissenschaftler Heinz von Foerster, Louis Kauffman, Niklas Luhmann,
Humberto Maturana und Francisco Varela beeinflusst und geprägt.
Form
Spencer-Brown definiert den englischen Begriff „form“ als Einheit aus einer
umschließenden Unterscheidung mit deren Innen- und Außenseite im dadurch hervorgebrachten
Raum der Unterscheidung. Unter Verwendung einer solchen Unterscheidung kann man danach nur
die Innenseite benennen, die Außenseite und die Unterscheidung selbst bleiben unbenannt.
Unmarked Space
Der Autor beschreibt in den Laws of Form auch das Beobachterdilemma: Jede von einem
Beobachter getroffene Beobachtung, somit Unterscheidung, impliziert demnach eine zweite
Unterscheidung: Die erste ist die Unterscheidung des jeweils beobachteten Gegenstands
(indication) – die zweite die Unterscheidung der mit der ersten Unterscheidung implizit
getroffenen Unterscheidung (distinction) des marked state von einem unmarked state.
Eine solche Beobachtung der Beobachtung wird auch „re-entry“ genannt und ist als
Theoriefigur universell, über die Mathematik hinaus, einsetzbar. Sie wird etwa bei dem
Soziologen Niklas Luhmann als Wiedereintritt in die Unterscheidung zu einer zentralen
Theoriefigur der luhmannschen Systemtheorie.
Fünf Jahre vor der Publikation der Laws of Form erzählt Italo Calvino in seiner
Kurzgeschichte Un segno nello spazio die Geschichte eines sich in seine eigenen
Markierungen verwickelnden Beobachters, namens Qfwfq, die sich wie ein literarisches
Experiment zu den epistemologischen Grundlagen (und Gefahren) einer Beobachtung zweiter
Ordnung liest.
ich grüße Dich,
wh.
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