Am 02.09.2021 um 10:35 schrieb Joseph Hipp via Philweb:
Subjektiv von mir an dich gerichtet: Überlege mal
statt "wahr/falsch"
die Wendung "vorhanden/nicht vorhanden".
Und dann "vorhanden für eine Person/nicht vorhanden für diese Person"
vom Betrachter aus gesehen.
Und dann Condillacs Statue: Sie erlebt nur diese eine Sache, für sie
ist nichts anderes als die Sache, nicht einmal sie selbst. Und wenn
die Sache nicht mehr da ist, was dann?
Sartre: Dann erlebt sie das Nichts (le néant).
(Condillac fährt dann sofort mit der eigenen Vergleichsmöglichkeit
weiter, welche die Statue nicht hat, und kommt danach schon auf
Glatteis.)
Ist demnach nur 1 und nicht einmal 0? Was dann mit dem
"Zweiwertigkeitsprinzip"?
Eigentlich wollte ich den Moment der Ruhe - wie er sich grad‘ hier in
philweb eingestellt hat - nutzen, um mich nach Tagen mit heftigen
Unwettern und vorzeitiger Herbststimmung nun der sich wieder äußerst
angenehm zeigenden Natur zu widmen.
Kein Gedanke also an Wahr und Falsch, keiner auch an Prinzipien und wenn
schon Condillac, dann den Duft von Heu hier zwischen den Feldern
wahrnehmen, da die Rosen im Garten leider schon verblüht sind.
Nun aber doch - wieder mal zu später Stunde - die Überlegung, ob „wahr“
dem Vorhandensein und „falsch“ dem Nichtvorhandensein grundsätzlich
entspricht und was es mit dem „Zweiwertigkeitsprinzip“ auf sich hat.
Ohne großes Nachdenken würde ich wiederholen, was ich jüngst hierzu
schrieb. Die Frage nach Wahrheit, üblich formuliert - was ist Wahrheit?
- muss differenziert behandelt werden:
Mit Bezug auf Sachverhalte, deren Wahrheitsgehalt objektiv und eindeutig
(z.B. durch eine technische Messung oder rechnergestützte Auswertung der
logischen Spannungspegel von 0/1 in der Digitaltechnik) festgestellt
ist, also mit klarem Bezug auf die Aussagenlogik gemäß dem
Bivalenzprinzip angewendet werden, ist die Frage nach Wahr und Falsch
problemlos zu klären.
Hier kann resp. darf es kein „Dazwischen“ geben und es gilt
uneingeschränkt das „tertium non datur“ wie ebenso: wahr = „vorhanden“ /
falsch = „nichtvorhanden“.
Dazu vielleicht noch ein Beispiel aus der Digitaltechnik:
Um den logischen Zuständen Wahr/Falsch entsprechend elektrische
Potentiale zuzuordnen, könnten dafür (nahezu) beliebige Spannungswerte
festgelegt werden (sofern zwischen diesen eine eindeutige
Differenzierung erfolgen kann). In der TTL-Technik stehen üblicherweise
Fünf Volt für „wahr“ oder „1“ und Null Volt oder „0“ (meist das sog.
Massepotential), es gilt eindeutig das Bivalenzprinzip; dennoch variiert
in der Praxis der „Pegel“ von 5V für die logische 1 („wahr“) und man
legt daher eine gewisse Schwankungsbreite fest, innerhalb derer die
logische Eins bzw. dieses „wahr“ gilt. Das hat allerdings nichts damit
zu tun, dass - logisch gesehen – ein „Drittes“ zwischen Null und Eins
liegen würde.
Für diesen betrachteten Fall technischer Anwendung kann man also sagen:
Die Regel des „Zweiwertigkeitsprinzips“ legt fest, dass mindestens ein
Wahrheitswert gelten (also "vorhanden" sein) muss, da in der
Aussagenlogik nur solche Werte erlaubt sind, denen ein eindeutiger
Wahrheitsbezug entspricht. Diese Regel gilt für den gesamten
MINT-Bereich zusammen mit den arithmetischen Gesetzen.
Letztere entsprechen analytischen Urteilen a priori und diese
resultieren nicht aus der empirischen Welt der Sinneswahrnehmungen;
Zahlen als „Gegenstände“ der Arithmetik werden demnach nicht über Sinne
aufgenommen und interpretiert, die Gesetze der Arithmetik sind objektive
Tatsachen und keine Fiktionen oder sonstige Kopfgeburten, sondern
existieren genuin per se. Diesbezüglich scheitert das Denkmodell der
Condillac‘schen Statue ebenso wie Sartre's "Nichts".
Selbst im Abschweifen in die abstrakte Welt der Mathematik (Brüche,
irrationale und komplexe Zahlen) verbleibt man immer noch auf dem Boden
der Realität und das hat absolut nichts mit Fiktion und dergleichen zu
tun; so mysteriös dies auch erscheinen mag, wenn man beispielsweise
versucht, sich das Ergebnis von (√−1) vorzustellen, was der imaginären
Einheit (i=√−1) einer komplexen Zahl entspricht, die in Form von (x +
iy) dargestellt wird.
Dabei ist i als imaginärer Wert durch nichts Anschauliches beschreibbar,
wirkt somit tatsächlich fiktional und dennoch haben Mathematiker und
Ingenieure mit dieser Vorstellung i.A. keine Probleme, letztere
beispielsweise, wenn sie an einer durch VECTOR ([RE (z (f) ), IM (z (f)
)], f ) aufgespannten Ortskurve den frequenzabhängigen Wert von
Scheinimpedanzen ablesen und daraus konkrete Maßnahmen zu deren
Kompensation berechnen können.
Was für Fachleute in diesem Berufsfeld zum täglichen Arbeitsmittel
zählt, ist für andere ein kaum auf Anhieb zu verstehendes Phänomen.
Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass in der realen Lebenswelt
Gegenständlichkeit durchaus fiktiv oder gar mysteriös erscheinen, bzw.
dem Alltagsverstand nicht auf Anhieb zugänglich sein können, aber
dennoch als wahre, konkret ableitbare Aussagen hinsichtlich ihrem
faktischen Vorhandensein existieren. Darüber mögen bisweilen die
Condillac‘sche These wie auch Vaihingers Fiktionsbegriff hinwegtäuschen.
Philosophisch gesehen, wie aber auch auf die übliche gesellschaftliche
Handhabung bezogen, verhält es sich mit „Wahrheit“ um einiges
komplizierter. Dort führen Aussagen (nicht solche der Prädikatenlogik!)
oftmals zu Objektabstufungen im Sinne von „mehr oder minder“ (Frege) und
damit zu Hypostasierungen und Ontologisierungen.
Die Frage nach Wahrheit hängt damit in diesem Umfeld von (meist
subjektiv und ggf. kollektiv verstärkt) vorgenommenen Urteilen ab, die
zudem ihrerseits zumeist affirmativen Charakter haben. Nicht selten
werden dadurch genuin angelegte Wahrheitsprädikate verfälscht,
ideologisiert oder durch Lüge missbraucht.
Im allgemeinen gesellschaftlichen Umfeld verlässt man nahezu
unweigerlich die klaren logischen Aussagen, wie ich sie oben für die
MINT-Domäne erläutert habe. Was im Alltag für den einen wahr oder
schlicht richtig erscheint, bedeutet dem anderen das exakte Gegenteil;
die subjektive Vergegenständlichung ausschließlich gedachter
Begrifflichkeiten führen in die Welt der Phantasmen, Fiktionen oder
schlichtweg in die Unwahrheit.
Was hingegen Vaihingers Fiktionen anbetrifft, sollte man seine Idee von
einem Dritten zwischen Wahr und Falsch dahingehend interpretieren, dass
er zwischen diesen Gegensätzen einen potentiell nutzbaren (wenngleich
unlogisch erscheinenden) Raum sieht, der er quasi als fiktionalen
Bereich zur kreativen Ausgestaltung erklärt. Dies wurde von W. Jerusalem
als „Logik der Unlogik“ bezeichnet.
Um hier nun nicht zu sehr auszuufern, möchte ich diese Idee am Beispiel
von „Brainstorming“ erläutern, eine in den späten 1930er Jahren
aufgekommene Methode zur unkonventionellen Ideenfindung bei der
Diskussion zu Projekten, Vorhaben oder einfach nur für Problemlösungen;
jede vorgebrachte Idee ist dabei zuzulassen und dieses unabhängig von
Konsistenz, Themaverfehlung etc.; je verrückter, je spontaner – umso besser.
Kritik und Bewertung (schon gar keine Totschlagargumente) finden nicht
während, sondern erst am Ende der “Ideensammlung“ statt.
Inzwischen ist man etwas von dieser Möglichkeit kollektiver Ideenfindung
abgerückt, dennoch liegen die Vorteile auf der Hand:
Spontan - quasi als Geistesblitze - einfallende Gedanken (und
erscheinen sie zunächst noch so abwegig) ohne jegliche Bindung an
kollektive Konventionen, (Vor)Urteile, ohne Angst vor Kritik und damit
ein Unterdrücken von Ideen, kommt letztlich der kreativen
Fortentwicklung konkreter Projektarbeit zugute.
Fazit daraus ist demnach, dass aus dem zunächst unlogisch, unorthodox
erscheinendem Nachdenken, durchaus kreative Vorstellungen über einen
Sachverhalt etc. erwachsen können. Soweit also ein praktisches Beispiel
zur „Logik der Unlogik“.
[...] An Mathematiker zwecks darauf folgender Frage: In der
Mathematik gibt es nicht nur 0 und 1, sondern auch Zwischenzahlen,
also in dem Fall immer noch "digital" zu denken, wenn auch manchmal in
infinitesimalen Gegenden. Die Analog-Digital-Umwandlung und umgekehrt
ist zusätzlich mitsamt Problemen zu bedenken. Eine naive Frage,
ehrlich: Gibt es eine analoge Mathematik?
Bezüglich dieser Frage, würde ich zunächst zurück fragen müssen, was Du
exakt damit verbindest.
Solltest Du von Mathematik an sich ausgehen, würde ich die Geometrie
(als das mathematische Urprinzip) und darin den Kreis als analogen
Inbegriff mathematischer Darstellung sehen. Diese geometrische Form ist
gewissermaßen unantastbar hinsichtlich einer irgendwie gearteten
Stückelung, sprich Digitalisierung resp. Quantisierung; hier bleibt nur
(An)Näherung, wenngleich in absolut praktikabler Weise.
Damit wäre ich bei der räumlichen Analogisierung, vornehmlich zwischen
ebener und räumlicher Geometrie. Das ist natürlich auch ein mittlerweile
sehr umfangreiches Gebiet im Bereich der rechnergestützten Simulation
z.B. in der Projektentwicklung.
Ein anderer Aspekt hinsichtlich „analoger Mathematik“ findet sich in
numerischen (also rechnergestützten) Methoden zur Lösung von
Differentialgleichungen mit (sehr schnell arbeitenden )Analogrechnern,
also grundsätzlich die Möglichkeit, analoge technische Vorgänge wie
beispielsweise Regelungs- und Ausgleichvorgänge (Temperatur etc.),
Schwingungen (Dämpfung) , oder in biochemischen Prozessen
(Konzentrationsausgleich, Zellwachstum) quasi in Echtzeit zum Zweck der
Steuerung bzw. Überwachung prozessual zu verarbeiten. Bei allem gilt
hierbei (die technische Ausführung anbelangend), dass die Differentation
dx/dt im Gegensatz zur Integration schwieriger zu realisieren ist.
Das ist nun aber hier schon sehr technisch und ich vermute, Deine Frage
zielt auf einen ganz anderen Hintergrund.
Durchaus philosophischen Hintergrund hat die Analogisierung von ebener
zu räumlicher Geometrie im grundsätzlichen Sinne von Verräumlichung.
Das wäre dann ein weiteres, spannendes Thema.
Die vorhin genannte Einsetzung und Herausholung wäre nur eine Methode,
eine Fiktion im Sinne Vaihingers.
Wenn alledem so ist, dann geht es um die Einsetzung in die richtige
Ebene, und nicht um die Frage, ob ein Zweiwertigkeitsprinzip gilt oder
nicht. Das Problem, das mit Aussagen und sprachlichen Ebenen bzw.
anderen sprachlichen Ebenen als den Ebenen von Logik und Mathematik
dazu kommt, ist mir bewusst, ich bringe es aber nicht fertig, dieses
vor den hier angegebenen Zugangsweisen zu bedenken. Sogar die Ebenen
sind als Vaihinger-Fiktionen gesetzt: "Wir" tun so, als wären da
Ebenen. "Wir" brauchen sie, würde Vaihinger sagen, aber nur bis zum
Ende der Herausholung aus der Ebene.
Die Idee der Ebenen ist durchaus brauchbar und führt unverzüglich wieder
zurück auf Frege, wie auch auf Poppers drei Welten, vielleicht auch an
die „Many-Worlds-Theory“ Everetts heran.
Das ist nun wiederum ein ganz anderer thematischer Zugang, insoweit auch
kritisch, als er unweigerlich mit positivistischen Vorstellungen
kollidiert.
Vielleicht kann man darauf bei Gelegenheit eingehen, um sich trotz
entsprechender Vorbehalte diesem Thema zu nähern.
Gerne höre ich zu, wenn jemand mir sagt, das sei völliger Unsinn, den
ich hier schrieb. Ich bin auch bereit, zuzuhören, dass das einerseits
den groben Teil der Geschehnisse angewandt wird, dass es aber viele
Ausnahmen gibt.
Da ist nichts von "Unsinn" zu lesen, im Gegenteil ist es immer wieder
sehr sinnvoll, sich konstruktiv mit dieser Thematik zu beschäftigen.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl