Am 11.02.2020 um 18:11 schrieb Ingo Tessmann:
 
 dem Beispiel des Rezensenten von der neomarxistischen Menschenkategorisierung folgend,
scheint mir das Buch von Murray eher polemische Phrasendrescherei als seriöse
Gesellschaftsanalyse zu sein. 
Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Du das Buch nicht in Gänze gelesen 
hast – so wie eben auch ich nur Auszüge daraus, bzw. einige Rezensionen 
gelesen habe. Daher schrieb ich:  es lohnt wohl, gelesen zu sein.
So muss ich darauf verzichten, Murray‘s Buch mehr oder weniger unbesehen 
als „ polemische Phrasendrescherei“ abzutun (eher könnte man letzteres 
bei einigen Rezensienten annehmen).
Mein Einschätzung ist, dass der Autor durchaus in provokant 
publikumswirksamer Diktion, jedoch sicher zutreffend die Abkehr von 
herkömmlichem Common sence in der Bewertung gesellschaftlichen 
Alltagsverhaltens durch jene kritisiert, die die Herrschaft über 
„Schreibstifte“, Mikrophone und Kameras heutiger Medienindustrie 
übernommen haben. Somit Herrschaft ausüben, gewissermaßen als viertes 
Element der Gewaltenteilung und damit Exekutive, Judikative insbes. 
Legislative vor sich hertreiben. Wir hatten hier schon mal diese 
Thematik (Journalistisches Framing) diskutiert.
Framing  (von wem oder welcher Intention auch immer entstammend), als 
vorgegebenes Raster ideologisch gefärbter Deutungsmuster, die Auftrag 
und Berufsethos in Bezug auf möglichst neutrale, wirklichkeitsnahe 
Wiedergabe der Geschehnisse aushöhlen und Journalisten sich, dem framing 
folgend, eher als Mitspieler im Polit-Zirkus, denn als neutrale 
Beobachter und Berichterstatter gerieren; dadurch also selbst dazu 
beitragen, dass hässliche Begriffe wie „Lügenpresse“ in die Welt gesetzt 
wurden. In diesem Kontext eben auch die hier schon benutzte Rede von der 
durch‘s Dorf getriebenen Sau, wie zuletzt Umweltsäue und dergleichen.
Es ist eine widerliche (mittlerweile auch längst weit in unsere 
Gesellschaft eingedrungene) Entrüstungs- und Betroffenheitsmentalität, 
getragen und verstärkt durch IT-gestützte Werkzeuge der sog. Sozialen 
Netze, die sich eines universitär-medial-bürokratischen Sprachduktus 
bedient, gespeist aus dem sozialpolitischen Potential des ursprünglich 
angloamerikanischen „social justice activism“.
Die Adepten dieser „neuen Religion“, als selbsternannt integre Wächter 
von Moral und Tugend, treffen selbstredend nicht auf intellektuell 
getragenen Widerstand (aus eigenen akademischen Reihen), sondern 
erzeugen (ungewollt oder auch dümmlich) Widerstand bei jenen, die sich 
dieser Ideologie und einem jeweils sich daraus entwickelnden medialen 
Spießrutenlauf auf ihre Weise zu widersetzen suchen. Darum wurde in 
einem gesellschaftlich zutiefst gespaltenen Land (als Ursprungsraum 
dieser Entwicklung) ein Präsident gewählt, der sich offenbar darauf 
eingerichtet hat, zwischen Fronten von Hass und Zuspruch zu regieren. 
Über unsere hiesigen Verhältnisse muss ich kein Wort mehr verlieren. 
Natürlich haben wir auch hier (europaweit) eine tiefe Spaltung der 
Gesellschaften. Wenn man das nicht sehen kann oder will, lebt man 
offenbar in einer Wolke bzw. weit inmitten einer der geteilten Sektoren.
Murrays Kritiker werden seine „Gesellschafts-Befunde“ populistisch 
nennen. Wie ich doch inzwischen diesen Begriff verachte! Seiner 
eigentlichen sozialwissenschaftlichen Bedeutung entzogen, dient er 
mittlerweile nahezu ausschließlich als Stigma-Begriff in der 
gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, um die jeweilige 
Gegenpartei zu diffamieren. Und da (wie bereits erwähnt) die sog. 
Sozialen Netze nicht nur schamlos benutzt werden, um individueller 
Begierde nach Aufmerksamkeit und Bewunderung (Bloger,
Influencer etc.) zu frönen, sondern eben auch (radikal-)politische und 
gesellschaftliche Interessen zu thematisieren. Letzteres zunehmend ohne 
Rücksicht auf Grundwerte (eigentlich jetzt als Begriff verbrannt), 
Fairness und Menschlichkeit.
    Da schaue ich lieber in das von Martin Voss
herausgegebene Buch „Der Klimawandel, Sozialwissenschaftliche Perspektiven“:
 
https://docplayer.org/6692619-Martin-voss-hrsg-der-klimawandel.html 
Nun habe ich darin etliche Seiten gelesen. Ein unmittelbar thematischer 
Zusammenhang mit dem von mir gegebenen Buchhinweis auf Murray besteht ja 
nicht. Es ist ein grundlegend anderes Gebiet, wobei natürlich die Frage 
nach gesellschaftlicher Wahrnehmung der Klimaproblematik und deren 
Thematisierung (wie in drastischer Weise durch Greta und triple-F in 
Szene gesetzt) in Richtung sozialwissenschaftlicher Betrachtung und 
Verantwortung zeigt. Jedoch zu glauben, dass ein Buch (wie das von M. 
Voss verlegte) zum Thema Klimawandel aus SoWi-Sichtweise nachhaltigen 
Einfluss in die Alltagsgesellschaft, Politik oder deren Gremien haben 
könnte, wäre ebensolches Wunschdenken, die Schriften eines Aquinus 
(Scholastik) könnten unvermittelt heutiges Kirchenvolk tiefgreifend 
beeinflussen. Die gleichermaßen lehrreichen wie kompliziert 
dargestellten Ausführungen der im zitierten Buch gesammelten Beiträge 
kannst Du nachvollziehen und mit Dir wenige andere. Für sonstig 
Verantwortliche in Politik und Wirtschaft sind diese Geschichten „in den 
Wind“ geschrieben. Diesbezüglich dringlichste  Änderung der Denk- und 
Handlungsweisen von Politik und Gesellschaft, kann allenfalls durch eine 
auf wesentliche Fakten komprimierte, diesen Kreisen verständliche, 
„Übersetzung“  solch wissenschafts-intrinsischer Terminologie angestoßen 
werden. Das gilt es also auch zu bedenken im Bezug auf die Rolle der 
Wissenschaft hinsichtlich ihrer Wirkung und Einflussnahme auf genannte 
Kreise. Deshalb (mit Verlaub) ein Auszug des von Dir zitierten Buchs, um 
hier zu verdeutlichen, was ich damit sagen will:
/"(in Frage stehend) Klimawandelforschung eines Sozialwissenschaftlers, 
der nicht mit jenem geochemischen und geophysikalischen Fachwissen 
formulieren kann, das der Klimawissenschaftler mitbrächte. Geübter ist 
der Sozialwissenschaftler darin, Wissenstatbestände in gesellschaftliche 
Bezüge hinein zu denken. [...] langwellige Strahlung wird von Wolken und 
Gasen anteilig und in unterschiedlicher Intensivität absorbiert, so dass 
sich die Atmosphäre erhitzt. Zugleich schirmt die Atmosphäre z.b. durch 
Wolken den bodennahen Bereich gegen die kurzwellige Einstrahlung der 
Sonne ab, was den Erwärmungseffekt abmildert und die Temperatur auf jene 
durchschnittlichen 15 C reguliert. Dieses Schema des natürlichen 
Treibhauseffektes (der genau genommen anders funktioniert als die 
Erwärmung in Treibhäusern, Fouriers Benennung war also eigentlich 
irreführend, siehe z.b. Plimer 2009: 365) ist nun nicht mehr als eine 
grobe phänomenologische Matrix, die sich zeitlich und räumlich unendlich 
fortschreiben lässt. Andere Matrizen wie bspw. theologische oder 
naturphilosophische wären denkbar. Doch seit Jahrhunderten hat sich 
dieses physikalisch-chemische Schema zumindest im Kulturbereich des 
Industriekapitalismus gegenüber anderen behauptet. Einer grundlegenden 
Kritik bspw. Ihrer metaphysisch-epistemologischen Implikationen war 
diese Matrix wohl seit Anfang bzw. Mitte des 19. Jh.s nicht mehr 
ausgesetzt. Das grundlegende physikalisch-objektivistische 
Erkenntnismuster ist seither kulturell eingebettet und eng mit anderen 
gesellschaftlich technologischen Entwicklungen verwoben.//
//Bereits Arrhenius arbeitete, wie oben gezeigt, mit diesem Schema und 
gelangte so zu seiner Hypothese, dass Veränderungen der atmosphärischen 
CO 2 -Konzentration Temperaturänderungen zur Folge haben könnten. 
Seither wird diese Matrix mit allgemeinen physikalischen Grundsätzen auf 
die verschiedensten Teilkomponenten des übergreifenden Klimasystems 
aufgegliedert und mit Beobachtungen, Messungen und mathematischen 
Kalkulationen zu komplizierten physikalischen Zusammenhängen 
unterfüttert. Finalisieren lässt sich dieser Prozess prinzipiell nicht. 
Der Untersuchungsgegenstand der erst knapp 40 Jahre jungen, weitgehend 
physikalisch geprägten Klimawissenschaften ist ein Paradefall eines 
komplexen, dynamischen und nichtlinaren Systems. Es ist nicht möglich, 
solche Systeme jemals vollständig zu beschreiben, weil minimale 
Änderungen im Verlauf bei gleichen Ausgangsbedingungen wie auch 
geringfügige Unterschiede in den Anfangsbedingungen leicht zu qualitativ 
vollständig anderen weiteren Entwicklungen ...“/
  Wirtschaftswundermythos, Wachstumsdogma, Konsumrituale
und Autosymbol charakterisieren die vorherrschende Religion. Was machte denn die neue
Religion aus? Klimakrisenmythos, Nachhaltigkeitsdogma, Genügsamkeitsrituale und
Fahrradsymbol? So könnte fabulieren, wer Wissenschaft als Mythologie,
Selbstkonsistenzverfahren als Dogma, Genügsamkeit als Ritual und das Fahrrad als so
anbetungswürdig wie das Auto ansähe. 
Wenn wir die Symbolik von Wachstumszwang, Konsum-Irrsinn, Auto etc. der 
Begrifflichkeit von Religion zuordnen, dann mit Recht nur in dem Sinne: 
„Das Auto ist dem Deutschen heilig“ oder die Prozessionen jener 
Konsumjünger betrachtend, die sich durch shopping malls und Boutiquen 
der Innenstädte wälzen. Ganz zu schweigen vom Online-Handel.
Ich glaube, wir (zumindest die hier Versammelten) sind uns einig, dass 
diesbezüglich ein Umsteuern dringend erforderlich ist. Denn (nachhaltig) 
glücklicher oder zufriedener ist keiner dieser „Religion“ frönenden 
Zeitgenossen, was sich deutlich in deren (neurotischem) Habitus 
abzeichnet. Dennoch würde ich solchermaßen beschriebene Szenarien nicht 
Religion (in deren ureigenster Begrifflichkeit) zuordnen, sondern eher 
einer Massenpsychose.
  Ich dagegen sehe die neue Jugend- bzw.
Zukunftsbewegung in der Tradition der Aufklärung, die mit Wissenschaft die Religion zu
entmachten trachtete. Bei den 68ern waren es die Sozialwissenschaften, bei den 18ern (wenn
wir die neue Jugendbewegung mit dem Sitzstreik Gretas am 20.8.2018 beginnen lassen) die
Naturwissenschaften. Nun waren aber schon die 68er eine Minderheit wie es die 18er
gegenwärtig sind. Der Mainstream huldigt nach wie vor dem Wirtschaftswundermythos und wird
sich davon nicht so leicht abbringen lassen. Der Anteil der Vegetarier und Autoverweigerer
in der BRD dürfte deutlich unter 10% liegen. 
Hier ein wirksames Potential zur Fortführung tradierter Aufklärung 
erkennen zu wollen, würde ich eher (meiner kürzlich angeführten Skepsis 
hinsichtlich einer gesellschaftlich relevanten Durchschlagskraft des 
Löwenanteils heutiger Jugend folgend) zurückhaltend sein.
Durchaus hat sich doch der Geist der 68er (obgleich als Minderheit der 
Bevölkerung)  in die heutige (intellektuelle) Gesellschaftsszene 
eingeflochten. Die politischen und sozialen Verhältnisse waren jedoch 
gänzlich anders gelagert als heute. Also bleibt abzuwarten, wie sich die 
Generation der „18er“ gesellschaftlich etabliert.
    
 Ich sehe also keine Spaltung unserer Gesellschaft. Womöglich wird die um des Profits
willen lediglich von den Medien herbeigeredet. In den 1970ern gab es hinsichtlich des
Parteienspektrums noch eine Spaltung zwischen etwa gleich starken Christen und Sozis.
Heute ist die Gesellschaft demgegenüber ausdifferenzierter. Es gibt Linke, Sozis, Grüne,
Liberale, Christen und Nationale. Und die neue APO ist in FfF zu sehen. 
Meine Sichtweise bzgl. Spaltung habe ich oben beschrieben. Die von Dir 
angeführte „Ausdifferenzierung“ trifft natürlich zu, sie verliert ihren 
gesellschaftsrelevanten Einfluss jedoch dadurch, dass im politischen 
Dauer-Konfliktfall „Linke, Sozis und Grüne“ gegen einen nunmehr gänzlich 
ausgehöhlten Torso der bislang etablierten Mitten-Parteien stehen. 
„Christen“ und „Sozis“ sah ich ohnehin schon lange nicht mehr als solche 
am politischen Werk, eher als Parteigänger, die ihrem (typisch deutsch 
eingefleischten) Opportunismus folgend, selbst nach Kräften zum 
Untergang ihrer Parteien beigetragen haben. Ein  Kernhäuflein Nationaler 
ist m.E. lediglich temporär, (wenngleich durchaus gefährlich) verstärkt 
durch Abwanderung aus eben genannten Parteien. Letzterem sollte man 
massiv (aber klug) entgegenwirken, jedoch nicht mit aggressiv 
politischer Agitation oder durch Provokation (das Naturgesetz "actio 
gleich reactio" beachtend) , sondern durch die Wiederherstellung einer 
tragfähigen, breit angelegten politischen Mitte, wo sich auch Menschen, 
deren Herz links oder rechts eben dieser Mitte schlägt, aufgehoben bzw. 
durch eine demgemäß aufgestellte Legislative vertreten fühlen.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl