War es nicht so, dass die ganze Sache mit den Fallen usw. damals auch relativ wenige
Leute interessiert hat?
Ein Experiment muss interpretiert werden. Es steht nicht oder nur höchst selten, für sich
allein. Selbst scheinbar eindeutige Ergebnisse können verschieden interpretiert werden,
wie grade Galilei zeigt.
Hi Rat Frag,
eingedenk des Bevölkerungswachstums seitdem interessieren sich auch heute noch nur wenige
Leute für phys. Experimente.
Unabhängig von den wechselnden Interpretationen gibt es den Anspruch auf
Reproduzierbarkeit phys. Experimente. Die reproduzierbar gemessene Fallbeschleunigung
ändert sich nicht durch das Gerede darüber.
Naja, die Mathematik hat ihre Form der Diskussion nur
deshalb aufrecht erhalten können, weil sie den Gegenstandsbezug aufgegeben hat. Insofern
wäre die Orientierung an der heutigen Mathematik fatal. Zudem in der Mathematik die
Korrektheit einer Schlussfolgerung wirklich nur an Details der Definition von einem
Begriff abhängen können. Definiert man etwas um... Da ist z. B. Physik beruhigender.
Mir schwebt in der Tat ein stufenweises Vorgehen vor. Die Argumentationen der Mathematiker
bilden ja auch das Vorbild für Physiker. Damit ist zumindest gezeigt, dass Argumentationen
formal funktionieren können; denn in der Demokratie geht es ebenfalls nur um die Form: was
zählt, ist die Mehrheit, wofür auch immer. In der Physik kommt die Technik als
Voraussetzung hinzu, bei der es ums materielle Funktionieren geht. Aber auch die
Mathematik ist heute nicht mehr so trivial, dass Definitionen beliebig sind; denn je
weiter die Mathematik entwickelt wird, desto mehr Strukturzusammenhänge gibt es, die
einschränkend wirken. Das hat gerade Grothendieck durch seine Art der
„Generalisierung" mehrfach vorgeführt.
Also warum beim Argumentieren wieder von vorne anfangen, wenn es Wissenschaften gibt, die
zum Vorbild taugen und weltweit in kritischer Eintracht miteinander auskommen? Diese
Vision vom „idealen" Staat nach dem Vorbild der Mathematik hatte ja schon Plato und
insofern ist der Ansatz auch philosophisch. Der Beweisstil Grothendiecks war es
beispielsweise, das jeweilige Abstraktionsniveau möglichst so gut zu treffen, dass sich
die Theoreme gleichsam wie von selbst ergeben. In der Physik wird seit Einstein ähnlich
vorgegangen.
Im Lebensalltag tritt an die Stelle des Abstraktionsniveaus der Rahmen. Mir fällt unter
meinen Mitmenschen z.B. immer wieder auf, dass sie situationsgemäß einen Spruch parat
haben, beispielsweise „Gleich zu gleich gesellt sich gern“ oder „Gegensätze ziehen sich
an.“ Nur wenige Sprücheklopfer sorgen sich aber um die situationsübergreifende Konsistenz
ihrer Sprüche.
Die Anthropologin Helen Fischer hat den Zusammenhang zwischen dominierendem Hormonspiegel
und wahrscheinlichstem Paarungsverhalten untersucht und abstrahiert daraus
Persönlichkeitstypen. Sie unterscheidet den östrogenbestimmten Diplomaten, den
serotoninbestimmten
Gründer, den dopaminbestimmten Entdecker und den testosteronbestimmten Wegbereiter. Da
viele Frauen Diplomaten sind, d.h. empathisch, intuitiv, flexibel und freundlich, und
viele Männer Wegbereiter, also analytisch, logisch, direkt und durchsetzungsfähig,
paaren sich häufig die Gegensätze. Demgegenuber bleiben meistens Gründer
(konventionell, ordnungsliebend, regelgeleitet) und Entdecker (risikobereit, kreativ,
optimistisch) jeweils unter sich.
Die wahrscheinlichkeitsgewichtete Quantifizierung nach Persönlichkeitstypen schafft einen
neuen Rahmen, in dem es keine Inkonsistenz mehr gibt. Aber wie verallgemeinerbar wiederum
ist dieser Rahmen? Und wäre das Vorgehen auch auf den aktuellen Streit zwischen „Fossilen“
und „Nachhaltigen“ anwendbar? Erstere wollen weiter die Braunkohle subventionieren,
letztere stattdessen mehr Windenergie fördern. Und was sagt der Philosoph?
Mit Gruß in die Woche,
Ingo