Am 28.07.19 um 21:06 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Am Sa., 15. Juni 2019 um 18:15 Uhr schrieb Claus Zimmermann
<Zimmermann.Claus(a)t-online.de>de>:
(Vorbemerkung: doppelte Unterstriche sollen für
Absätze stehen. Die werden leider plattgemacht, wenn ich hier mit dem Tablet poste.)____
Ich frage statt "was ist gerecht?" lieber nach der Bedeutung des Worts. Wenn
ich die zweite Frage beantworten kann (was ich nicht kann, ich überlege nur), kann ich
auch die erste beantworten.
Nur wenn wir der Prämissen zustimmen, dass der
Sprachgebrauch da schon
im Wesentlichen recht hat.
Ich war 3 Wochen unfreiwillig offline.
Zeichenregeln - was bedeutet es, wenn ich zweimal pfeife; was, wenn ich
dreimal pfeife - sind ja grundsätzlich beliebig und weder richtig noch
falsch. Der Gerechtigkeitsbegriff hat allerdings die Besonderheit, daß
damit eine Wertung und eine Handlungsaufforderung verbunden ist, die man
allerdings richtig oder falsch finden kann.
Ich hoffe, es ist nicht aufdringlich monologisierend, wenn ich die
vorläufige Endfassung des Textchens, das ja durch eine
Philweb-Diskussion angeregt wurde, hier reinkopiere. Falls doch, lasse
ich sowas in Zukunft und bitte ergebenst um eine angemessene Strafe.
Grüsse, Claus
________________________________
Was verstehen wir unter Gerechtigkeit? (Das müssen Sie schon selbst wissen)
Zuerst machen wir vielleicht mit der Gerechtigkeit Bekanntschaft, wenn
das andere Kind eine Tafel Schokolade geschenkt kriegt, wir aber nicht.
Wir kriegen einen Wutanfall. Da wird uns jemand vorgezogen! Das ist das
Schlimme, nicht ein ungestillter Appetit auf Schokolade, der mit uns
durchgeht. Die Schokolade und den Appetit hatte man ja unmittelbar vor
dem Wutanfall auch nicht. Wenn wir keine Sonderrechte in Anspruch nehmen
wollen und die gleiche Empfindlichkeit im nächsten Schritt auch anderen
zugestehen, haben wir einen - allerdings noch sehr anfängerhaften -
Gerechtigkeitssinn entwickelt. Anfängerhaft, weil wir später auch von
Gerechtigkeit reden, wo es keine Präzedenzfälle gibt, etwa bei
juristischem Neuland. Das Wesentliche an der Gerechtigkeit ist auch
nicht die Gleichbehandlung, denn man könnte ja auch immer in gleicher
Weise ungerecht handeln und behandelt werden.
Vielleicht erklärt man uns, daß das andere Kind Geburtstag hat - dann
bekommt man ein Geschenk- oder krank war - dann muss man getröstet
werden - und bringt das mit dem Wort "gerecht" in Verbindung.
Wesentlich für den Gerechtigkeitssinn scheint zu sein, daß wir empört
oder zumindest mit innerem Kopfschütteln auf Unrecht reagieren. Wer das
nicht kennt, was weiß der von Gerechtigkeit? Aber wir empören uns z.B.
auch über sehr schlechte Manieren und es ist schwer, die eine Empörung
von der anderen zu unterscheiden. Wie sollten wir also dadurch
feststellen können, was gerecht ist? Vielleicht verhält sich die
Empfindung zum Gerechtigkeitsurteil wie sie sich in der Musik zur
Strukturwahrnehmung (Wahrnehmung einer Folge von Klängen als Einheit)
verhält: ohne Musik wäre die Empfindung nicht etwa ein halbiertes
Musikerlebnis, sondern gar keins, aber ohne Empfindung wäre es auch
keins. Eine schöne Melodie ist eine, die unser Herz höher schlagen
lässt. Aber wenn unser Herz höher schlägt, muss das nicht unbedingt an
einer schönen Melodie liegen.
Also was ist es, worüber wir uns da aufregen? Lässt es sich beschreiben
oder nur mit dem Wort "Ungerechtigkeit" bezeichnen? - das dann in die
gleiche Kategorie wie die Worte "blau" oder "salzig" gehören würde.
Dann
wären alle verbalen Definitionsversuche aussichtslos. Wir können aber
Fälle gerechten Handelns beschreiben und nicht nur anschaulich
demonstrieren. Allerdings gehen an dieser Stelle die Ansichten
auseinander. Was man für gerecht hält, hängt davon ab, wie man die Welt
sieht und was einem eingetrichtert wurde. Wer glaubt, daß Gott jeden an
seinen Platz gestellt hat, wird ganz andere Gerechtigkeitsvorstellungen
haben als jemand, der an einen fundamentalen Unterschied zwischen
Gläubigen und Ungläubigen oder zwischen verschiedenen Rassen glaubt oder
jemand, der nichts davon glaubt.
“Sei gerecht!” muß und darf nicht begründet werden, wenn es ernst
gemeint ist, denn eine Begründung würde ausdrücken, daß einem die
entsprechende Pflicht oder Bindung mit dem Grund abhanden kommen
könnte.^1
<http://clauszimmermann.de/Gerechtigkeit/Gerechtigkeit2.html#fn1x0> Was
das genau bedeutet - das Kleingedruckte sozusagen - allerdings schon.
Darüber kann man verschiedener Ansicht sein, ohne das Prinzip aufzugeben
und diese Ansichten sind auch begründungsbedürftig. Der Satz darf
natürlich nicht völlig leer sein, sonst würde eine Verpflichtung auf ihn
nichts bedeuten. Zum allgemein akzeptierten Kern dürfte gehören, daß es
keine willkürliche Benachteiligung geben darf.
Das muß man nicht so sehen. Man kann, wenn man damit leben möchte, das
Prinzip auch komplett aufgeben und sich etwa auf den Standpunkt stellen,
daß es nicht auf Gerechtigkeit, sondern nur auf Stärke ankommt.
Wie kam der kleine Junge auf die Idee, daß der Sandkastenkollege auch
nicht leben soll wie ein Hund? Vielleicht weil er ihn ins Herz
geschlossen hat? In diesem Fall ist die Gerechtigkeit weniger eine Sache
des Sollens als eine des Wollens und damit doch naturrechtlich
begründet, nämlich durch unsere eigene Natur, der “natürlich” auch
weniger harmonische Empfindungen nicht fremd sind. Oder bedeutet das
nur, daß die Neigung zwar die Kinderstube der Pflicht ist, mehr aber
auch nicht?
Soweit Neigungen in den Hintergrund treten sollen, was im
Erwachsenenleben ja häufig nicht zu vermeiden ist, ist man wieder bei
den Ansichten, die den Begriff “willkürlich” ausfüllen und der Frage, ob
man sie sich zu eigen macht.
Fußnote:
^1 Nietzsche, Ein Verdacht gegen die Moralbegründung, 1888: Es würde uns
Zweifel gegen einen Menschen machen, zu hören, daß er Gründe nöthig hat,
um anständig zu bleiben: gewiss ist, daß wir seinen Umgang meiden. Das
Wörtchen “denn” compromittirt in gewissen Fällen, man widerlegt sich
mitunter sogar durch ein einziges “denn”. Hören wir nun des Weiteren daß
ein solcher Aspirant der Tugend schlechte Gründe nöthig hat, um
respektabel zu bleiben, so giebt das noch keinen Grund ab, unseren
Respekt vor ihm zu steigern. Aber er geht weiter, er kommt zu uns, er
sagt uns ins Gesicht: “Sie stören meine Moralität mit Ihrem Unglauben,
mein Herr Ungläubiger; so lange Sie nicht an meine schlechten Gründe,
will sagen an Gott, an ein strafendes Jenseits, an eine Freiheit des
Willens glauben, verhindern Sie meine Tugend...Moral: man muß die
Ungläubigen abschaffen, sie verhindern die Moralisierung der Massen.”