Am 24.10.2022 um 11:28 schrieb Joseph Hipp über
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Der Satz des Karl:
"Vielmehr ist von Arendt ihre Überzeugung bekannt, eine Gesellschaft könne nur dann
hinreichend funktionieren, wenn bestehende Gesetze eingehalten werden."
widerspricht zumindest ansatzweise (von mir so gesagt) seinem eigenen Satz (dem des
Karl):
Das Problem dabei, war ihr wohl bekannt: es kommt
auf die Gesetzgebung an; sofern diese nicht dem ethischen Grundwerten entspricht (wie eben
im Dritten Reich), berechtigt das zu zivilem Ungehorsam, also dem Recht auf Ungehorsam.
„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ ist schlichtweg die immer wieder vorgebrachte
angebliche Aussage von Hannah Arendt, die damit jedoch Eichmanns Berufung auf Kants
Pflichtsbegriff („man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen“) entgegen trat: „kein
Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant“ und kritisierte in diesem Zusammenhang die
Neigung der Deutschen zu absurder Pflichterfüllung (auf die sich Eichmann berief). Dieses
steht in keinerlei Zusammenhang mit Arendts Überzeugung, dass ein Gemeinwesen nur
funktionieren kann, wenn deren festgeschriebene Gesetze (z.B. unser Grundgesetz) befolgt
werden. Über allem steht m.E. jedoch Kants kategorischer Imperativ, den Arendt im besagten
Radiointerview von 1964 auch anführt.
Karl
PS: Phrasem hin oder her - wenn Gesetze bzw. Dekrete verfasst werden, die nicht einem
ethischen Wertekodex entsprechen (wie etwa derzeit aktuell in ru zu sehen), dann ist
ziviler Ungehorsam legitim. Doch was nützt diese Legitimation, wenn sie durch keine
Rechtsmittel in einem autoritären System gestützt ist und das eigentlich übergeordnete
Völkerrecht seitens staatlicher Rechtssysteme mit Füßen getreten wird.
Es muss hier ein wenig genauer gesprochen werden, mit
rechtsphilosophischen Wörtern, Sätzen usw. Die sind nämlich ziemlich gesichert. Das
Phrasem "ethische Grundwerte" greift hier zu kurz. Es geht statt des
"Problems dabei" genau um das Spannungsverhältnis zwischen positivem Recht und
der übergeordneten Gerechtigkeit. Es besteht hier vermutlich noch Lernbedarf, die
Differenzierung ist nicht bei jedem angekommen und gefestigt. Nur nebenbei bemerkt: Neue
Wendungen wie "Soziale Dissonanz" helfen nicht weiter, um den Sachen auf den
Grund zu gehen. Es sind schon viele Räder erfunden, die erst beachtet werden können. Siehe
zur Differenzierung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Positives_Recht
Daraus ergibt sich schon, dass das für die Gegenüberstellung verschiedene Wörter
gebraucht werden und auch privat gebraucht werden können. Auf der einen Seite mit dem
Wörtern "positives, geschriebenes, usw." auf der anderen Seite
"überpositives, Natur.." jeweils mit den Wörtern Recht oder Gesetz bespickt.
Möglicherweise können jeweils noch weitere Wörter vorkommen, wie Ethik und Moral. Dann
entstehen aber Abhängigkeiten der Sachen, Redundanzen, die insgesamt dem korrekten Denken
entgegen stehen. Karl nahm das Phrasem "ethische Grundsätze". Aber ich würde mir
ihn gerne vor einem Gericht stehen sehen (effektiv lieber nicht), in dem er sagen würde:
"Geehrtes Gericht, das Anwenden der geschriebenen Gesetze genügt nicht, es müssen
auch noch die ethischen Grundsätze beachtet werden." Das wäre dann zudem der Vortrag
eines Universalarguments. Unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Staates. Viele fühlen sich
nämlich ungerecht von Gerichten behandelt.
Es geht also um die Frage, wann das eine vorgetragen werden darf, soll, wann es mit dem
positiven Recht genügt.
Um diese Diskussion ging es mit der "Radbruchschen Formel" die Gustav Radbruch
gemäß Wikipedia 1946 formulierte. Dass die Abgrenzung der zwei "Rechtsarten"
ungenügend formuliert ist, geht schon aus dem üblicherweise dem dazu gesagten Wort
"Spannungsverhältnis" zwischen beiden hervor. Eine andere Frage in dem
Zusammenhang ist, ob nur die Gesamtheit des positiven Rechts, also alle Gesetze dem
überpositiven Recht gegenüber "schlecht" sein können, müssen, oder ob es genügt,
wenn ein einziges positives Gesetz dem überpositiven Recht gegenüber "schlecht"
ist. (widerspricht, es übergeht usw.)
Vielleicht genügen die Bemerkungen hier dazu, dass der oben angegebene Erstsatz in diesem
Zusammenhang nicht unbedingt diskutiert werden muss. Mir wäre es zudem lieber, wenn die
Sachen losgelöst von den Personen (Arendt, Radbruch usw.) diskutiert werden würden, obwohl
ich diese keinesfalls übergehen will.
Inwieweit die Radbruchsche Formel im Eichmann-Prozess genutzt wurde, ist mir nicht
bekannt. Den Transkript des Prozesses kann gesucht werden und im Anschluss kommentiert
werden, ich kann dies jetzt nicht.
Ein hier durchaus interessanter Zusammenhang ist mit dem Phrasem "ziviler
Ungehorsam" zu denken,
siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_David_Thoreau#Thoreau_als_Prophet_des_z…
Dort findet sich der Satz "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat",
als Buchtitelübersetzung, eine Analogie kann mit dem oben angegebenen Satz gedacht
werden.
Ziviler Ungehorsam ist aber leicht von der Diskussion "positives Recht,
überpositives Recht" zu trennen, es besteht keine Abhängigkeit, anders gesagt es
können zwei Dimensionen gedacht werden. Ziviler Ungehorsam ist gegenüber beiden
Rechtsarten möglich, zu vor sogar gegen den Staat, also gegenüber einer beliebigen
Obrigkeit. Und doch hat Ziviler Ungehorsam, zivile Aktion, sogar Sabotage zur Folge, dass
die Frage gestellt werden kann oder gar muss, ob denn jetzt positives Recht zu denken ist,
oder eben überpositives. Es geht ein wenig zu weit hier, zu schreiben, dass es nicht nur
positives und überpositives Recht geht. Das Binäre ist vorläufig in Ordnung. Wenn jedoch
einige die "extinction rebellion" praktizieren, dann liegt eine Komponente vor,
die schwer schwarzweiß in die zwei Rechtsarten eingeordnet werden kann, bzw. die Zukunft
kommt dazu. Denn hier besteht eine Aktivität stellvertretend für die kommende Generation,
aber mit zivilem Ungehorsam oder ziviler Aktion gegen die aktuelle.
JH
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