Am 13.02.2020 um 16:31 schrieb Ingo Tessmann:
Hi Karl,
ich hatte wiederholt vier notwendige Kriterien für die Definition von Religion
aufgeführt: Mythen, Dogmen, Rituale, Symbole. Die führst die "neue Religion" nur
an, aber was steckt denn bei den "selbsternannten Tugendwächtern" mehr dahinter
als ihre Haltungen, Mahnungen, Appelle und Warnungen?
Die charakteristischen Elemente Deiner Definition von Religion könnten
m.E. auch für die von mir metaphorisch angelegte Begrifflichkeit einer
„neuen Religion“ gelten:
Den Mythos (besagter neuen Religion) sehe ich verwirklicht durch
Transformation biblischer in neohumanistische Mythenmodelle.
Die Erzählung der Bibel werte ich nicht als primär gottgegebenes,
offenbartes Evangelium, sondern als seinerzeit von Menschen verfasste
„Mythensammlung“, nedergeschrieben im „Buch des Lebens“ in Konnotation
einer eher empirisch, sinnlichen Wahrnehmung von Spiritualität und dem
daraus erschaffenen Gottesbild.
Einem typisch neohumanistischen Mythenmodell philanthropischer Prägung
entstammend sehe ich den von mir angeführten angloamerikanischen „social
justice activism“, der die Bewegungen von „Equal opportunity” bis #Metoo
charakterisiert.
Aus derartigen Mythen entwickeln sich jeweils kulturspezifisch
ausgerichtete Dogmen, Rituale und Symbole heute bekannter Arten, die
sich durch globale Kommunikation weltumspannend verbreiten und auswirken.
In den USA sehe ich ebenfalls eher eine Spaltung der
Gesellschaft als in der BRD oder auch Westeuropa. Demokraten und Republikaner stehen sich
gegenüber wie hier einst Sozis und Christen. Generell ist aber der christlich-moralische
Rigorismus in den USA unter Republikanern wie Demokraten sehr viel stärker ausgeprägt als
hierzulande.
{Zitat] "Für die USA war es wie bei so vielen prägenden und charakteristischen
Analysebegriffen Alexis de Tocqueville, der feststellte, das Land werde von Menschen
bevölkert, „die, nachdem sie die Autorität des Papstes abgeschüttelt hatten, keine andere
religiöse Oberhoheit anerkannten: Sie nahmen in die neue Welt eine Form des Christentums
mit, die ich nicht anders benennen kann als eine demokratische und republikanische.“
Hier ist man (vermutlich zurecht) versucht, das Fundament dieses
Rigorismus durch in Neuengland und Virginia eingewanderte Pilgerväter
begründet zu sehen, deren puritanische Intoleranz sich persistent in die
angloamerikanische Kultur eingenistet hat. Ursprünglich rigoroser
Puritanismus stand in England in unerbittlicher Gegnerschaft zur
römisch-katholischen Kirche und damit dort auch für die Spaltung von
Christen, während er als bestimmende Religion in USA prägenden Einfluss
auf den Nationalcharakter hatte, der sich bis heute zeigt. Einer
Gesellschaft nicht unbedingt abträgliche Tugenden wie Selbstzucht,
Fleiß, Erfolgsstreben, nimmermüde Arbeit/Geschäftigkeit wurden
postuliert und im Sinne des Dogmas von Prädestination (als von Gott
auserwähltes Volk in "God's own country") auch gelebt. Diese Form des
Christentums als eine demokratische benennen, bzw. diese im Sinne
ihres Stifters waltend sehen zu können, würde ich bezweifeln (zumindest
nach meinen Erfahrungen in diesem Land); republikanisch jedoch allemal!
So musste also bei derart gottgefälliger, tugendhafter Lebensführung
wirtschaftlicher Erfolg und Wohlstand garantiert sein. Letzteres
exzessiv betrieben bis zum erschöpften „Tanz um das goldene Kalb“,
dessen Verwerflichkeit und Sinnlosigkeit sich zwischenzeitlich ab Mitte
der 1960er Jahre der Traum von New Age entgegenstellte. Doch die
Flower-Power Bewegung im Dunst von Beliebigkeit, Drogen und Sex, teils
fragwürdigem Gesellschafts-Protest, hatte folglich kein ausreichendes
Potential, um den darauf umso stärker aufkommenden American Way of Life
(als Mixtur aus „prudery” und “anything goes“) mit allen desaströsen
Folgen amerikanischer Politik und Lebensart zu verhindern. Und eben
diese brisante Vermengung der Ideale vom „Land of unlimited
opportunities” und des Puritanismus hat letztlich zur Erschöpfung der
dazu verbrauchten bzw. vernichteten Ressourcen (natürliche, wie auch
subjektive, personale physische und psychische) geführt.
Als Erkenntnis und Folge daraus, wird versucht, diese unselige Melange
zu entkoppeln. Einer noch vorherrschenden „Religion“ mit ihrem Dogma
notwendig unbegrenztem Wachstums wird die „neue“ Religion der
Einschränkung, des Verzichts, der Verbote etc. entgegengesetzt.
Nicht der christlich-moralische Rigorismus in den USA hat sich aktuell
in unsere Gesellschaft übertragen, sondern es wurden lediglich
Moraldebatten (obgleich höchst abträgliche) transferiert, die zunächst
nichts mit Konsumverzicht, Wachstumsbegrenzung, Umwelt- und Klimaschutz
zu tun hatten, sondern überwiegend einem aberwitzigen,
angloamerikanischen „Hard-Core-Feminismus“ entstammten. So entwickelte
sich in hiesiger Gesellschaft ebenso eine unleidliche Mixtur aus
importierter, destruktiver Anklage- resp. Verbotsmentalität des
political correctness und der wirklich von uns zu entwickelnden
Debattenkultur hinsichtlich notwendiger Hinwendung zu möglichst
umweltverträglicher Lebensgestaltung. Würde es gelingen, diese
Vermengung zu entkoppeln, wäre erheblicher Zündstoff auf diesbezüglichen
Diskussionen genommen.
Dass sich nun „selbsternannte Tugendwächter“ mit ihren spezifischen
Haltungen, mit Mahnungen, Appellen und Warnungen hervortun, ist so
unvermeidlich wie auch schmerzlich (wo nötig). Abträglich jedoch,
insoweit deren fallweise durchaus löbliches Ansinnen oftmals durch
erschreckende Realitätsferne (auf welche Art auch immer unserer
konkreten Lebenswelt entfremdet) den Zielen einer (schließlich auch
praktisch erreichbaren) Umsteuerung entgegenstehen.
Und wie gesagt, soweit einseitig ideologisch verformte, „selbsternannte
Tugendwächter“ Herrschaft über „Schreibstifte“, Mikrophone und Kameras
erlangt haben, somit dann in dieser „schönen neuen Medienwelt“ mit der
Macht der Sprache gesellschaftliches Denken und Handeln in ihrem Sinn zu
lenken suchen, trägt dies massiv zur inzwischen erschreckend
aufscheinenden Spaltung der Gesellschaft bei. Dabei zeigt sich, dass
diese Tugendwächter zwar den intrinsischen Regeln ihrer „Religion“ nach
Belieben ergeben sind, ihr Alltagshandeln jedoch beliebig oft entgegen
ihrer postulierten Wertmaßstäbe steht.
Das ist also meine Sicht auf eine Entwicklung, deren gesamtheitlich
gesellschaftliche Relevanz einerseits überschätzt wird, als es sich
dabei um eine überwiegend im offenen Forum sozialer Netze betriebene
(digital-virtuelle) Debattenkultur handelt, ohne unmittelbare Auswirkung
auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik; andererseits jedoch durch ihre
instantan erfolgende (netzweite) Verbreitung unvorhersehbare Affekte
auszulösen vermag (und seien sie "nur" von Shitstorms und fragwürdigen
#hashtags initiiert).
Vermutlich wird dieses widerliche Gezeter schlagartig enden, wenn die
wirklich bedrohlichen Fakten des inzwischen unübersehbaren Klimawandels
uns alle dazu zwingen, augenblicklich gemeinsam nach Lösungen zu suchen,
resp. eigenes Umweltverhalten zu korrigieren.
Einem Verständnis von Freiheit als Einsicht in die
Notwendigkeit folgend, wäre ein Ökoliberalismus wünschenswert,
Dazu würde ich gerne ein anderes Mal schreiben, an dieser Stelle erst
mal ein „break“ mit bestem Gruß an Dich und in die Runde!- Karl