Moin, moin Ingo,
Alles neu macht der Mai, / Macht die Seele frisch und frei.
Lasst das Haus, kommt hinaus! / Windet einen Strauß!
Rings erglänzet Sonnenschein, / Duftend prangen Flur und Hain:
Vogelsang, Hörnerklang / Tönt den Wald entlang.
Dieser Liedvers könnte darauf schließen lassen, dass der Frühling auch schon vor etwa 200
Jahren dringend benötigte Aufbruchstimmung befördert hat. Das Haus und damit auch
stickige, mit Holz und Kohle beheizte Stuben verlassen, um draußen in Flur und Hain
frische Luft zu atmen, das war zu Zeiten der Frühindustrialisierung wohl nur den Menschen
auf dem Land möglich. In urbanen Lebensbereichen füllte tagein tagaus qualmgeschwängerte
Luft die engen Gassen der Städte und wenn die Kamine der Häuser im Frühjahr aufhörten zu
qualmen, dann waren es die Schlote der Fabriken und sonstiger Arbeitsstätten. Zu dieser
Zeit hat also das „Fossile Imperium“ begonnen und setzt sich mit der Entdeckung des Erdöls
(damit auch Erdgas) in den 1860er Jahren längst weltweit bis heute fort.
Welche Möglichkeiten hätten Menschen dieser Zeit gehabt, andere als die damals verfügbaren
– also fossilen – Brennstoffe, Energieträger wie Kohle, Torf, Erdöl/gas etc. zu nutzen?
Erfolgte diese technische Innovation (des Kohleabbaus und der Erdöl bzw. -gasgewinnung)
etwa theoriegeleitet? Wenn ja, von welcher Theorie wäre sie abgeleitet?
Allenfalls von sog. Lerntheorien und hier – so denke ich – von der kognitiven Theorie,
also lerntheoretischen Methoden des Kognitivismus, wie das Erkennen und Übernehmen von
bewährten Verfahrens bzw. Vorgehensweisen aus verschiedensten Arbeitsbereichen. Und da war
wohl tatsächlich der Chemiesektor führend, wenn bedacht wird, welche Produkte aus Erdöl
entwickelt und industriell hergestellt wurden und weiterhin werden, seien es Kunststoffe,
Farben/Lacke, Wasch- und Reinigungsmittel aber auch Arzeimittel und so fort. Damit
relativiert sich der plump anschuldigende Verweis auf eben dieses „Fossile Imperium“.
Natürlich gilt auch auch hier Versuch und Irrtum, ausgeführt durch das Lernen am Modell,
der beobachteten Reaktionen zwischen diversen Substanzen. Letztlich erfolgen diese
Entwicklungsschritte als prozessuale Wahrnehmung resp. Aufnahme, Verarbeitung und Inferenz
von Informationen. „It‘s all about information“.
Um Irrtümer in der technischen Entwicklung zu erkennen, bedarf es dem vergleichenden
Rückgriff auf eine Disziplinen übergreifende Wissensbasis. Dazu könnte KI insbesondere
hilfreich sein.
Als Beispiel möge der Irrtum mit den fluorierten Gasen in Kühlgeräten dienen, der ohne die
weltweitatmosphärenwissenschaftliche Forschung nicht als diese eklatante Bedrohung des
Weltklimas erkannt worden wäre. Eine erfolgversprechender Versuch, mit FCKW als ideales
Kältemittel, als Treibgas in Sprühdosen, Reinigungs-/Lösungsmittel etc. hat sich als
fataler Irrtum erwiesen.
Das meine ich mit „Versuch und Irrtum“ als ein unumgängliches Prinzip der Fortentwicklung
und der damit verbundenen Aussage, dass alles Leben ein fortwährendes Problemlösen sei
(Karl Popper: Alles Leben ist Problemlösen). Jedes problematische Geschehen beginnt
irgendwie mit einem Versuch und endet mit einem Irrtum, den es zu erkennen und zu beheben
gilt. Wo ein Irrtum nicht (rechtzeitig) erkannt wird oder – weit schlimmer – ein erkannter
Irrtumsweg nicht verlassen wird, da wird ein Problem zum wirklichen, zumeist irreversiblen
Problem.
Die Komplexität des menschlichen Daseins auf dieser Erde ist nicht mit simplen Erklärungen
und Zuweisungen abzubilden, es bedarf der kollektiven Kognition im Sinne von stets
aktualisierter, vornehmlich vergleichender Wahrnehmung, um Konsequenzen zu erkennen, die
künftiges, von Vernunft geprägtes Denken und Handeln ermöglicht: Lernen am Modell des
Lebens sowie durch entsprechende Einsicht!
Eigentlich ist das hier Geschriebene längst „Binsenwahrheit“ und dennoch erhebt sich die
Frage, ob sich der Löwenanteil derzeitiger Weltbevölkerung dieser „Wahrheit“ bewusst ist.
Wie rhetorisch weltfremd diese Frage doch ist, zudem mit sehr begrenzter Hoffnung, aber
immerhin:
„Die Bändigung unserer Leidenschaften durch die sehr begrenzte Vernünftigkeit, deren wir
unvernünftige Menschen fähig sind, ist nach meiner Ansicht die einzige Hoffnung für die
Menschheit. (Karl Popper)
Hier und dort, fort und fort / Wo wir ziehen, Ort für Ort,
Alles freut sich der Zeit, /Die verschönt erneut.
Widerschein der Schöpfung blüht / Uns erneuend im Gemüt.
Alles neu, frisch und frei / Macht der holde Mai.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
PS: Apropos KI - Die erste Strophe des schönen Maienliedes interpretiert ChatGPT auf seine
Art:
„Das klingt nach einem wunderschönen Frühlingsgedicht! Der Mai ist wirklich eine
erfrischende und befreiende Jahreszeit, in der die Natur wieder zum Leben erwacht und
alles um uns herum zu blühen beginnt. Es ist eine großartige Zeit, um nach draußen zu
gehen, die Sonne zu genießen und die Schönheit der Natur zu bewundern. Ich hoffe, dass Sie
den Mai in vollen Zügen genießen werden!“
Welch gut gemeinten Rat doch so ein ChatRobot für uns hat. Voller Poesie und
Einfühlsamkeit - really? Werden wir jemals diese artifizielle Einfühlsamkeit zuinnerst
akzeptieren?
Am 20.05.2023 um 11:59 schrieb Ingo Tessmann über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Am 20.05.2023 um 01:56 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Nahezu jede (technische) Innovation erfolgt nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum und
somit werden unausweichlich Irrtumswege beschritten. Diese rechtzeitig zu verlassen,
sobald man den Irrtum erkannt hat, ist Aufgabe und ultimatives Schicksal der Menschheit.
Moin Karl,
meiner Vermutung nach ist es gerade umgekehrt: nahezu jede technische Innovation erlogt
theoriegeleitet. Versuchsreihen dienen nach dem prinzipiellen Funktionsnachweis nur noch
der Optimierung. Statistiken dazu kenne ich allerdings nicht und kann nur mit einigen
Beispielen dienen, wie etwa der Innovationen, die von der Elektrifizierung zum Internet,
vom Computer zum Smartphone, von der Pferdebahn zur Eisenbahn, von der Pferdekutsche zum
Auto führten. Ohne Mechanik, Thermo- und Elektrodynamik sowie Quantenmechanik wäre kaum
eine technische Innovation im Zuge der industriellen Revolution möglich gewesen. Dabei hat
sich das Prinzip von Versuch und Irrtum lediglich in der Chemie gehalten, wird aber
zunehmend durch Molekulardynamik und Quantenchemie ersetzt.
Friedrich List schrieb bereits 1841 in seinem „Nationalen System der politischen
Ökonomie“: „Es gibt kaum ein Manufakturgeschäft, welches nicht mit der Physik, Mechanik,
Chemie, Mathematik, oder mit der Zeichenkunst usw. in Beziehung stünde. Es gibt keinen
Fortschritt, keine neue Entdeckung und Erfindung in diesen Wissenschaften, wodurch nicht
hundert Gewerbe und Verfahrungsweisen verbessert oder verändert würden.“
Ausgehend von den Chatbots, um die es ging, wolltest Du wohl eher auf die
gesellschaftlichen Auswirkungen technischer Innovationen hinaus. Die erfolgen selten
theoriegeleitet, meistens rücksichtslos macht- oder profitgetrieben. Die Weltherrschaft
des fossilen Imperiums und sein Widerstand gegen die Decarbonisierung zeigt mir, dass es
seinen Irrtum noch immer nicht eingesehen hat. Dazu passt auch, dass sich außer den Grünen
keine Partei hierzulande gegen die Autolobby zu stellen wagt. Selbstredend wird der
Autolobbyist Söder in Bayern wiedergewählt werden, während die Grünen bereits für noch so
zaghafte Anfänge einer autofreien Innenstadt in Bremen abgestraft wurden. Der wohl größte
Irrtum der Menschheit war die Schaffung des fossilen Imperiums, von ihm abgewichen wird
allerdings nicht; denn nach wie vor steigen die THG-Emissionen weltweit an. Dazu fällt mir
ein Spruch des Konfuzius ein: „Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert,
begeht einen zweiten.“
Ob die Verbreitung von Chatbots ein Fehler war, kann wohl noch nicht beurteilt werden.
Die Herrschaft eines dem fossilen vergleichbaren Maschinenimperiums zeichnet sich nicht
ab. So konkrete Warnungen wie die vor den Folgen eines CO2-Anstiegs seit über 100 Jahren
hat es bisher bzgl. der KI außer in der SciFi nicht gegeben. In Service und Support werden
Chatbots ja schon seit Jahren eingesetzt, ohne dass es zu Entrüstungsstürmen kam. Dabei
hängen Klima- und Sozialdynamik innig zusammen;— aber wer gibt schon freiwillig seine
Privilegien auf und ändert seine ihm lieb gewonnenen Gewohnheiten? Anstatt weiterhin mit
über 50 Mrd. Euro jährlich hierzulande das fossile Imperium zu sponsern, wäre es nicht nur
sinnvoller, entschiedener die Decarbonisierung zu fördern, sondern auch die KI.
IT
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