Ein durchaus lesenswerter Artikel (Danke für den Link!).
Die entscheidende Aussage bezüglich der geführten Diskussion findet sich
in Feldman Barrett's Einleitung (Ich erlaube mir das Zitat, der der
Artikel frei zugänglich ist):
/"Was genau ist eigentlich unser Geist? Das scheint vielleicht eine
etwas seltsame Frage zu sein, aber wenn man sie stellt, kommt man
schnell zu der Antwort, dass es das ist, was uns zu uns macht – unser
Bewusstsein, unsere Träume, unsere Gefühle und unsere Erinnerung. Lange
Zeit glaubten Forscher sogar, dass diese Aspekte des Verstandes an
bestimmten Stellen des Gehirns angesiedelt sind, z. B. eine Art
Schaltkreis für Angst, in einer anderen Region das Gedächtnis und so
weiter./
/In den letzten Jahren hat die Wissenschaft jedoch gelernt, dass das
menschliche Gehirn in Wirklichkeit ein Meister der Täuschung ist und
dass unsere Erfahrungen und Handlungen seine innere Funktionsweise nicht
offenbaren. Unser Geist ist in Wirklichkeit eine fortlaufende
Konstruktion aus Gehirn, Körper und der uns umgebenden Welt."/
In dieser zweifelsfrei kompetenten Darstellung sind Aussagen zu Geist,
Gehirn und Lebensumfeld getroffen, die in dieser Einheit die mentale,
integrativ prozessuale Verarbeitung selbstverständlich als
konstruierende Prozesse begreift.
/
/
/Lisa Feldman Barret: „Signal vom Rauschen trennen: Genauso wie das
Gedächtnis eine Konstruktion ist, sind es auch die Sinne. Alles, was wir
sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, ist das Ergebnis einer
Kombination von Dingen außerhalb und innerhalb unseres Kopfes. Wenn wir
zum Beispiel einen Löwenzahn sehen, hat er Merkmale wie einen langen
Stiel, gelbe Blütenblätter und eine weiche, etwas matschige Textur.
Diese Merkmale spiegeln sich in den einströmenden Sinnesdaten wider.
Andere Merkmale sind abstrakter, z. B. ob der Löwenzahn eine Blume ist,
die man in einen Blumenstrauß steckt, oder ein Unkraut, das man aus dem
Boden reißt. Es ist alles im Geist.“/
„Sinne als Konstruktion begreifen!“, wie die Autorin es beschreibt, hat
definitiv nichts mit Konstruktivismus (schon gar nicht mit radikalem) zu
tun, wie dieser sich vornehmlich in den Sozialwissenschaften quasi als
neurobiologisch begründetes Dogma entwickelt und bedauerlicherweise in
dessen boulevardesken Ausdeutungen zu beliebig missverständlicher
Begriffsbildung beigetragen hat.
Eigentlich sollte aus bisher von mir zum Thema erfolgten Darlegungen
hervorgehen, dass ich mich lediglich gegen diese ideologisch gefärbten
Vereinnahmungen und damit verbundenen Verfälschungen wende, keineswegs
jedoch gegen die Tatsache, dass die kognitiven Prozesse im Gehirn
selbstredend konstruktiv ein hinreichend taugliches Abbild der
wahrgenommenen Gegenständlichkeit erstellen, um mit eben mit der
Lebensrealität entsprechend interagieren, d. h. Verhaltensweisen
situationsgemäß daran anpassen zu können.
Dieser konstruktive Adaptionsprozess vollzieht sich (als Ganzes) in
jedem Augenblick der real erlebten und solchermaßen bewältigten Alltagswelt.
Würde man aus den bestens optimierten kognitiven Fähigkeiten des Gehirns
lediglich, wie von Waldemar beschrieben, „betrug, märchen, unecht,
schimäre“ ableiten, würde das Leben nicht nur in dessen Sichtweise,
sondern tatsächlich nichts als solch irrealer Zuschreibung entsprechen.
Wiederum: welch "erhebende Motivation" wäre das für menschliches
(Er)-Leben?!
Bester Gruß! - Karl
PS:
Zu Deiner (wie auch immer intentierten) Frage, ob die Autorin „
kompetenter ist als die hier Diskutierenden“ sei, kann man eigentlich
nur anmerken, dass ihr benannter Beitrag als Fachfrau von demgemäßer
Kompetenz geprägt sein sollte, die jener der zu diesem Thema hier
diskutierenden Laien übersteigt.
Am 11.11.2021 um 03:48 schrieb Joseph Hipp via Philweb:
[Philweb]
Es wurde schon viel hier zu obigem Betreff geschrieben. Nur sehr
wenige haben sich dazu geäußert. Nun fand ich heute morgen einen
Artikel, und frage, ob so ein Link hier angeben darf. Dort gibt die
Autorin sich selbst nicht den Namen "radikale Konstruktivistin", das
Lemma "Konstruktion" kommt im Artikel jedoch etwa dreizehnmal vor.
https://www.heise.de/hintergrund/Wie-das-Gehirn-unseren-Geist-erschafft-622…
von Lisa Feldman Barrett (Professorin für Psychologie)
Ob sie kompetenter ist als die hier Diskutierenden, würde mich
interessieren,
ob der Artikel sie als "radikale Konstruktivistin" entlarvt,
ob ihre benutzen Wörter korrekter im Text vorkommen als die Wörter,
die hier benutzt werden,
ob der Artikel den Nagel besser auf den Kopf trifft als die hier schon
geschriebenen Texte,
ob es auch dort fragwürdige Instanzen gibt, die den Geist in der
Maschine erforderlich machen,
ob "das Gehirn" ein Vermögen im Sinne der Vermögenspsychologie verdeckt,
ob weitere Vermögen dort zu einem falschen Denken führen bzw. führen
müssen,
was dort fehlt oder falsch ist,
ob die Zuschreibung "radikaler Konstruktivist" überhaupt sinnvoll ist,
wobei offen sein soll, ob die Zuschreibung eher nominalistisch,
definitorisch oder begrifflich gedacht werden soll.
Ich kann nur sagen, dass diese Fragen bei mir entstehen, wenn ich das
Wort "Wahrheit" im Betreff nicht ignoriere.
JH
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