Am 11. März 2024 15:00:17 MEZ schrieb "Ingo Tessmann über PhilWeb"
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Am 10.03.2024 um 20:14 schrieb Claus Zimmermann
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Wäre denn nicht eine viel weitergehende Einschränkung der Gültigkeits- und
Genauigkeitsbereiche bis hin zur Reduzierung auf nichts in den Fällen der Newtonschen
Mechanik und der Maxwellschen Elektrodynamik (was auch immer das ist) denkbar? Denken kann
man sich alles mögliche, es ist natürlich keine Widerlegung, aber es zeigt, dass und unter
welchen Bedingungen wir eine Hypothese als widerlegt betrachten würden. Wenn der innere
Kern der Theorie davon unberührt bliebe, scheint mir das nur dadurch möglich zu sein, dass
er als blosse Form mit irgendwelchen Tatsachen nichts zu tun hat. (Das ist es ja, was man
an der Kunst schätzt: die schöne, leuchtende Form.)
Moin Claus,
physikalische Prinziptheorien (PPs) sind für sich genommen in der Tat Kunstwerke in der
Kunstsprache Mathematik. Denk nur mal an die Superstringtheorie (SST), die
Loop-Quanten-Gravity (LQG) oder die Conformal Cyclic Cosmology (CCC).
Also doch äussere Bewährung und experimenteller
Existenzbeweis.
Das hatte ich doch nie bestritten. Aber wie bewähren sich PPs? Indem einige ihrer
unendlich vielen möglichen Hypothesen experimentell bestätigt werden. Die Physik umfasst
nur einen winzigen Teil der Mathematik und die Experimente nur einen winzigen Teil der
Physik.
Wäre die Bestätigung einiger der möglichen Hypothesen nicht ein bisschen wenig? Vor allem
darf es doch wohl nicht zu einer Falsifizierung kommen, die über eine Einschränkung des
Geltungs- und Genauigkeitsbereichs hinausgeht, nehme ich an. Und warum das prinzipiell
nicht möglich sein soll, wenn es sich nicht nur um eine Form ohne Inhalt handelt, verstehe
ich nicht. Aber darauf scheint es bei Prinziptheorien ja hinauszulaufen, wenn du sie oben
mit Kunstwerken vergleichst. Dann könnten sie allerdings auch nicht wahr im Sinn von
zutreffend, sondern "nur" schön sein. Andererseits werden ja anscheinend einige
Hypothesen bestätigt, d.h. das Ergebnis hätte auch anders ausfallen können.
Das Problem ist doch, dass man sich die Theorie im Gegensatz zur Natur ausdenkt und das
eine nicht zum anderen passen muss.
Das
Induktionsprinzip setzt doch Naturkonstanz voraus. Sonst würde man doch nichts aus
Beobachtungen "schliessen" (in Anführungszeichen wegen des Unterschieds vom
logischen Schluss).
Ja, gemäß Deiner Korrektur setzt Induktion Vertrauen auf Naturkonstanz voraus. Ich
zitierte zum „Restproblem der Induktion“ hjn: „Die Induktion hat sich mitsamt dem
Induktionsprinzip in Nichts aufgelöst.“ Aber „das Induktionsproblem ist zum Restproblem
der Naturkonstanz mutiert.“ Hinsichtlich der Naturkonstanz beruft sich hjn abschließend
auf Feynman in der Folge Einsteins: Wir können „weiterhin von ‚Naturkonstanz'
sprechen, wenn wir 'Translationssymmetrie in Raum und Zeit' meinen. … „Wichtig
ist, nicht zu vergessen, dass Naturkonstanz eine physikalische Bedeutung hat, die sich in
Raum- und Zeit-unabhängigen Gleichungen ausdrückt.“ Damit scheint auch hjn das Vertrauen
Einsteins in das Relativitätsprinzip gefunden zu haben. Du aber bleibst skeptisch.
Vom Relativitätsprinzip habe ich nur eine vage Vorstellung.
Natürlich verlasse ich mich wie fast jeder darauf, dass sich die Natur nicht mal so, mal
so verhält. Dieses Vertrauen gehört im Gegensatz zum Induktionsschluss nicht unbedingt zur
kulturellen Sphäre. Auch Naturwesen mit nur ganz wenig Kultur gewöhnen sich an die
Umgebung und lernen aus Erfahrung.
In der Philosophie würde ich Vertrauen als Argument nicht gelten lassen. In der Physik
fände ich Bestätigungen und das Ausbleiben von Widerlegungen zumindest innerhalb eines
bestimmten Geltungs- und Genauigkeitsbereichs auch überzeugender.
Einstein hatte in der „Akademie Olympia“ mit Freunden
auch Hume und Kant gelesen und meinte mit seiner Relativitätstheorie Skeptizismus und
Transzendentalismus überwunden zu haben, indem er sich auf Intuition und Deduktion
verließ.
Nach meinem Verständnis geht es in der Philosophie nicht um Prinzipien, die sich bewähren
müssen und aus denen dann alles andere abgeleitet werden könnte ("Keine Lehre,
sondern eine Tätigkeit"). Man kann eine Baustelle nicht mit einer völlig anderen
überwinden. Deduktion aus Begriffen bedeutet herauszulesen, was man vorher hineingelegt
hat. Wozu soll das gut sein? Das hatte ich bisher darunter verstanden. Jetzt höre ich,
dass sich aus dem Relativitäts- und Quantenprinzip mit komplexer Analysis (was es alles
gibt!) alles mögliche in der Welt der Pysik ableiten lässt.
Dabei war ihm Wissenschaft nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags. Alltäglich sind
die Konstanzerfahrungen in der Natur im Fortdauern der Erdrotation (Tageszeiten) , des
Erdumlaufs um die Sonne (Jahreszeiten), der Solarkonstanten (beim Sonnenbaden) und des
Fixsternhimmels (im Freien wolkenloser Nacht).
Meiner Vermutung nach hatte Einstein Invarianten im Naturgeschehen zu Prinzipien in der
Physik erheben können, weil er im Unterschied zu den meisten anderen Menschen bereits eine
„Invariante Persönlichkeit“ ausgebildet hatte, in der es nicht mehr um Lügen und
Vorurteile, um leidige und wechselnde Gefühle ging. Er hatte sich aus den Fesseln des
Nur-Persönlichen befreit und ganz der nichtmisstrauenswürdigen Ordnung in den
Naturerscheinungen überlassen. Einstein lebte gleichsam im Einklang (um nicht zu schreiben
in Kohärenz) mit der Natur, entfaltete ihre Einfaltungen und explizierte ihre implizite
Ordnung. Jetzt fehlt mir in meiner Schwärmerei nur noch der Zusammenhang mit der
Innen/Außen-Perspektive.
Für Einstein lag der Zusammenhang von Persönlichem und Natürlichem intuitiv nahe und so
kam er wie von selbst zum Invarianzprinzip, das er eingedenk der Konstanzerfahrungen
gleichsam in sich wie in der Natur sah. Von der Intuition kam er durch (mathematische)
Verfeinerung über die Invarianz zur Deduktion. In deduktiver Strenge stimmten
Wissenschafts- und Naturerfahrung dann überein. Das muss ihm immer wieder berauschende
Erlebnisse beschert haben. Unterdessen hat ja auch hjn neben der Translationsinvarianz
sogar die Technik zur Überwindung des Hume'schen Skeptizismus bemüht. Vor Jahrzehnten
hatte ich hjn gegenüber bereits mit Einstein und Lorenzen gegen Popper argumentiert.
In der meth. konstr. Hochstilisierung der Alltagspraxis wird ja im Detail vorgeführt, wie
ausgehend vom alltäglichen Mund- und Handwerk, Wissenschaft und Technik, Formalismen und
Experimente nachvollziehbar konstruiert werden können. Im Gegensatz zum Top-down-Ansatz
hin’s aus der Popper’schen Dreiweltenlehre heraus, scheint mir der Bottum-up-Ansatz aus
der Alltagspraxis heraus plausibler, da voraussetzungsloser. Die Alltagspraxis als Basis
aller Wissenschaft und Technik scheint von hjn allerdings immer noch nicht ernst genommen
zu werden — und von Dir offensichtlich auch nicht.
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Für mich ist das hier ein Ausflug in
eine fremde Welt.
Claus
IT
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