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Am 12.06.2021 um 16:12 schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
Am 01.06.2021 um 14:50 schrieb Karl Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Schriftsteller bleiben gerne im Nebel der
Metaphern und Analogien. Verhält sich vielleicht Gnade zu Gerechtigkeit wie Zufall zu
Kausalität?
Kurz hier hineingezwängt:
Ja, ich bin der Meinung, dass diese Relation besteht; denn die Elemente beider Bezüge
haben kein (absolutes) Alleinstellungsmerkmal:
Gerechtigkeit kann es ohne Gnade (Billigkeit in juristischer, Barmherzigkeit in
christlicher und Nachsicht in humanistischer Form) nicht geben - ebenso wie Kausalität
(als Element von Determination) nicht ohne den Einfluss objektiven Zufalls (und sei er
nich so gering) einhergeht.
Hi Karl,
Dürrenmatt mag es auch so gesehen haben, aber was ist mit der Sozialrevolutionärin und
Religionsfanatikerin Simone Weil?
Ich glaube nicht, dass sie „Religionsfanatikerin“ war - dazu war war sie viel zu
intelligent!
Aber sie war hin und her gerissen zwischen ihrem rigorosen (auch körperlichen) Einsatz für
die Menschlichkeit, geprägt durch eine absolut selbstlos, jedoch definitiv nicht
ideologisch angelegte Soziabilität (sich das Elend von Mitmenschen hineindenken und dieses
mitfühlen können) und gleichermaßen radikal-utopischen Idealvorstellungen von „Gott und
der Welt“.
In ihrer kompromisslosen Art (gegen Andere wie aber auch gegen sich selbst) würde sie
heute wohl als „Fundamental-Aktivistin“ gelten, sicher aber zu Unrecht.
Für meine Begriffe beschreibt H. Böll („Ansichten eines Clowns“ oder „Irisches Tagebuch“
las ich als erste seiner Bücher) recht zutreffend das Wesen dieser großartigen Frau (ich
erlaube mit die Passage aus Wikipedia zu übernehmen)
„Die Autorin liegt mir auf der Seele wie eine Prophetin; es ist der Literat in mir, der
Scheu vor ihr hat; es ist der potentielle Christ in mir, der sie bewundert, der in mir
verborgene Sozialist, der in ihr eine zweite Rosa Luxemburg ahnt; der ihr durch seinen
Ausdruck mehr Ausdruck verleihen möchte. Ich möchte über sie schreiben, ihrer Stimme
Stimme geben, aber ich weiß: ich schaffe es nicht, ich bin ihr nicht gewachsen,
intellektuell nicht, moralisch nicht, religiös nicht. Was sie geschrieben hat, ist weit
mehr als ‚Literatur‘, wie sie gelebt hat, weit mehr als ‚Existenz‘. Ich habe Angst vor
ihrer Strenge, ihrer sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen,
die sie mir auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahe käme. In diesem Sinne ist sie
nicht ‚Literatur als Gepäck‘, aber eine Last auf meiner Seele. Ihr Name: Simone Weil.“ –
Heinrich Böll[32]
Beachtenswert, dass Böll von „sphärischer Intelligenz“ spricht und damit seinerzeit ebenso
die von uns hier kürzlich thematisierte „kosmische Intelligenz“ anführt.
In ihrer Textsammlung „Schwerkraft und Gnade“ soll sie
die universale Gravitation als Metapher für die allgöttliche Gnade angesehen haben: die
eine ziehe nach unten, die andere wie das Licht nach oben.
Nun ja, „Gravitation“ war zu dieser Zeit noch nicht so sehr das Thema der Philosophie.
Zitat: „Menschliche Mechanik: Wer leidet, sucht sein
Leiden anderen mitzuteilen — sei es durch Misshandlungen, sei es dadurch, dass er ihr
Mitleid hervorruft—, um es so zu vermindern, und derart vermindert er es in der Tat. Wer
ganz unten ist, wen niemand bedauert, wer über niemanden Gewalt hat, den er misshandeln
könnte (wenn er weder ein Kind hat noch irgendein Wesen, das ihn liebt), bei dem bleibt
das Leiden in ihm und vergiftet ihn. Das ist unentrinnbar wie die Schwerkraft. Wie kann
man sich davon freimachen? Wie befreit man sich von dem, was wie die Schwerkraft ist? Ist
es nicht überdies eine anerkannte Tatsache, dass die Astronomie aus der Astrologie, die
Chemie aus der Alchimie hervorgegangen ist? Aber man deutet diese Nachfolge als einen
Fortschritt, während es sich um einen Verfall der Aufmerksamkeit handelt.“
Ich denke, dieses „Bild“ würde sie mit dem heute verfügbaren naturwissenschaftlichen
Wissen nicht mehr benutzten.
Ziemlich wirres Zeug, wie ich finde, so dass ich mir
die Lektüre nicht antun werde. Aber was ist mir Dir? Hast vielleicht schon mehr von Simone
Weil gelesen? Wie konnte sie sich von der Sozialrevolutionärin zur Religionsfanatikerin
entwickeln und schlussendlich durch Verhungern auslöschen?
Wie das an vielen anderen Menschenschicksalen (dieser Kategorie) ebenso zu sehen ist, kann
man im Angesicht seiner Idealvorstellungen zugrunde gehen. Man muss sich wohl zu
hinreichenden Teilen in die harte Realität der Lebenswelt fügen.
In „absoluter Mitte“ zwischen deren Ideal und harter Realität zu verweilen, gleicht dem
Schicksal von Buridans Esel: am Ende bleibt nur das Verhungern!
Welt, Kosmos und alles Leben ist ständiger unausweichlicher „Überlebenskampf“. Jede
Vorstellung oder Prophezeiung eines (wie auch immer gearteten) Paradieses ist u-topisch,
d.h. ein Paradies hat und findet keinen Ort in Welten wie unserer.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl