Am 19.06.2023 um 17:21 schrieb Ingo Tessmann über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Wenn ich umgangssprachlich Identität bedenken will, wende ich mich über meinen eigenen
Alltagshorizont hinaus der Literatur zu, lese bspw. Romane von Max Frisch. Philosophisch
lässt sich an Leibniz anknüpfen: Identisch ist das, was in allen Eigenschaften
übereinstimmt. In der Mathematik lässt sich ein Identitätsoperator definieren und die
Physik geriet nicht erst mit Planck, sondern schon mit Gibbs in statistische
Ungereimtheiten. Das Verständnis der Hohlraumstrahlung erforderte die Annahme der
Ununterscheidbarkeit in der Abzählmethode Boltzmanns und die Mischungsentropie einen
Korrekturfaktor hinsichtlich der auszuschließenden Permutationen.
Im Anschluss an Gibbsen Korrekturfaktor und Einsteins Photonenhypothese leitete Bose dann
1924 die Strahlungsformel rein statistisch für ein Photonengas ab. Mathematisch wesentlich
war die Annahme der Permutationsinvarianz, die in der Quantenmechanik hinsichtlich der
Positivität der Wahrscheinlichkeit genau zwei Teilchensorten zur Folge hat: Bosonen und
Fermionen. Erstere sind ununterscheidbar, letztere unterscheidbar. In der Physik sind es
die mathematischen Strukturen und das Experimentieren, die für Klarheit sorgen. Sollte
sich das Philosophieren nicht daran orientieren und womöglich sogar Alltagsempfehlungen
zur weiteren Disziplinierung der Umgangssprache formulieren? Z.B.: Bedenke den
Anwendungsbereich deiner Worte!
Wissenschaft vs Alltagshorizont. Hinsichtlich Deiner ausgeprägten Affinität zur
Mathematisierung dieser Lebenswelt fällt mir ein Beitrag aus der nzz zu (Zufall?), der
m.E. genau das damit verbundene Problem eines damit einhergehenden Verlust des Weltbezugs
aufzeigt:
"….Ob Wissenschaft überhaupt einen Bezug zur Lebenswirklichkeit findet, ist freilich
fragil und fraglich. Das hat niemand besser erkannt als Edmund Husserl in seinem in den
dreissiger Jahren entstandenen Spätwerk «Die Krisis der europäischen Wissenschaften».
Für Husserl war es vor allem die Arithmetisierung der Naturwissenschaft, die für den
Verlust des Weltbezugs verantwortlich ist. Mathematisierung wäre nicht weiter schlimm,
bliebe dabei nicht der Bezug zur Alltagswelt auf der Strecke. Mehr noch: Wissenschaft
gaukelt uns Objektivität vor, hat aber ihre erklärende Kraft verloren. Sie verschweigt,
dass Objektivität in Wahrheit Ergebnis ihrer eigenen methodischen Konstruktion ist, die
sie für das «wahre Sein» ausgibt.“
Bester Gruß! - Karl