Am 12.07.2021 um 11:30 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Am Fr., 9. Juli 2021 um 17:25 Uhr schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
Ich glaube, wir reden hier von Kants Raum, der
einer der bzw. unserer Möglichkeiten und Vorstellungen ist.
Bei Kant ist der Raum AFAIR keine Eigenschaft des "Dings an sich",
sondern bloße Vorstellung:
""Vermittelst des äußeren Sinnes, (einer Eigenschaft unseres Gemüts),
stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im
Raume vor. [...]Der Raum ist kein empirischer Begriff[...]. Denn damit
gewiße Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden, (d. i. auf
etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich
befinde), imgleichen damit ich sie als außereinander, mithin nicht
bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne,
dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach
kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der
äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere
Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst
möglich." [1]
Man könnte sich fragen: Was ist das für ein äusserer Sinn als
Eigenschaft unseres Gemüts, dessen Existenz hier behauptet wird?
Wenn jemand Farben sehen kann, kann man das dadurch ausdrücken, daß man
ihm Farbsinn zuschreibt, ohne damit etwas anderes zu behaupten als daß
er eben Farben sehen kann. Wir erwerben Farbsinn nicht durch die
Betrachtung farbiger Gegenstände, sondern könnten sie ohne eine
bestimmte Fähigkeit, nämlich die, Farben sehen zu können, gar nicht in
ihrer Farbigkeit sehen. Klingt das nicht nach: "wenn wir das nicht
könnten, könnten wir das nicht"?
Zumindest der erste Teil des Satzes "wir erwerben Farbsinn nicht durch
die Betrachtung farbiger Gegenstände" klingt nicht so, als ob eine
Fähigkeit zur Bedingung ihrer selbst erklärt würde.
Und analog könnte man vielleicht sagen: Wir erwerben Ortssinn nicht
durch räumliche Erfahrung, sondern haben ihn oder nicht.
Der Ortssinn scheint mir allerdings fundamentaler für das Leben zu sein,
denn er ermöglicht Bewegung. Und der Zeitsinn noch fundamentaler, denn
er ermöglicht nicht nur Ortsveränderungen, sondern Veränderungen überhaupt.
So würde ich mir das zusammenreimen.
In unseren Zusammenhang schien mir dieser Zeit- und Ortssinn insofern zu
passen, als er keine Grenze kennt, die in der Vorstellung nicht
übersprungen werden könnte, während eine Grenze begrifflich jedem
bestimmten Raum oder Zeitraum immanent ist.
"Der Satz: Alle Dinge sind nebeneinander im Raum,
gilt nur unter der
Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen
Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriffe,
und sage: Alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im
Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung. Unsere
Erörterungen lehren demnach l die Realität (d. i. die objektive
Gültigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als
Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes
in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst
erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer
Sinnlichkeit zu nehmen."
Kant beantwortet uns ebenfalls die Frage nach der Unendlichkeit des Raumes:
"Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt. Ein
allgemeiner Begriff vom Raum (der sowohl in dem Fuße, als einer Elle
gemein ist,) kann in Ansehung der Größe nichts bestimmen. Wäre es
nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung, so würde kein
Begriff von Verhältnissen ein Principium der Unendlichkeit derselben
bei sich führen." [1]
Der letzte Satz ist für mich geheimnisvoll, was ich aber nicht Kant,
sondern den gut 200 Jahren der Sprachentwicklung anlaste.
Schon der Zeitgenosse und Kant-Fan Lichtenberg beschwerte sich
sinngemäß: Es war von Herrn Kant nicht freundschaftlich gegen seine
Leser gehandelt, seine Werke so zu verfassen, daß man sie studieren muss
wie ein Rätsel der Natur. (Gedächtniszitat)
Das mit der
Grenzenlosigkeit der Anschauung lässt sich auch auf
die heutige
Perspektive retten, wenn man die immer subtilere Anschauung der
Geometrie etwa auf fortschreitende Anschauung zurückführt. Sprich,
Kant vertritt eine intuitionistische, vielleicht konstruktivistische
Philosophie in Sachen Geometrie.
Bei Kant merkt man natürlich ganz besonders stark bei der
transzendentalen Ästhetik, dass es ihn darum ging, die "apodiktik" der
Urteile über Geometrie oder über Zeitempfinden unbedingt zu erhalten.
(Ästhetik im alten Sinne als "Lehre von der sinnlichen Anschauung, von
den Empfindungen" und "Apodiktik" als unbedingtes Urteil, nicht als
eine Behauptung, die mit großer Überzeugung vorgetragen wird.)
Deswegen ist bei Kant Zeit auch eine Anschauung, keine Eigenschaft der
Dinge. Die Mathematik, ganz besonders zur Zeit Kants, befasst sich
nicht mit sich ändernden Objekten. Die natürlichen Zahlen oder die
Körper der Geometrie entwickeln sich nicht weiter, man (er-)findet nur
neue Eigenschaften.
Daher ist es auch nicht abstrus zu behaupten, dass mathematische Sätze
eine ewige Gültigkeit haben und absolut gewiss sind [2].
Übrigens hat sich der Standpunkt Kants in dieser Frage nicht völlig
erledigt. Selbst Poincare wird nachgesagt, dass für ihn die
vollständige Induktion ein synthetisches Urteil a priori war [3]. (Aus
rein logischen Axiomen herleitbar ist das Prinzip meines Wissens
nicht.)
Auch heute gibt es noch Platonisten, die Intutionisten können als eine
Art Weiterentwicklung von Kants Philosophie aufgefasst werden (unter
Berücksichtigung der Erkenntnisse der neueren Zeit, incl.
Evolutionstheorie!) und Empiristen. Neu hinzugekommen sind meines
Wissens nur Logiszisten und Formalisten.
Ich sehe mich hier auf den Spuren von T. Müller,
den sie den Raumdeuter nennen.
Diese Person ist mir nicht vertraut, kannst du mir einen Link oder
einen Buchvorschlag machen? Meine To-Read-List ist immer noch lang,
wurde aber während des Lockdowns kürzer.
Thomas Müller, Fußballgott, Verfasser des Buchs "Mein Weg zum
Fussballprofi". Hat im Achtelfinale leider den Ausgleich versemmelt.
Claus
####
Zitiert nach:
[1]
https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krva/krva011.html
[2] "Zeit und Raum sind demnach zwei Erkenntnisquellen, aus denen a
priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden
können,[...].Sie sind nämlich beide zusammengenommen reine Formen
aller sinnlichen Anschauung, und machen dadurch synthetische Sätze a
priori möglich.[...]Nehmen sie die zweite Partei (von der einige
metaphysische Naturlehrer sind), und Raum und Zeit gelten ihnen als
von der Erfahrung abstrahierte, obzwar in der Absonderung verworren
vorgestellte, Verhältnisse der Erscheinungen (neben- oder
nacheinander), so müssen sie den mathematischen Lehren a priori in
Ansehung wirklicher Dinge (z. E. im Raume) ihre Gültigkeit, wenigstens
die apodiktische Gewißheit streiten, indem diese a posteriori gar
nicht stattfindet, und die Begriffe a priori von Raum und Zeit, dieser
Meinung nach, nur Geschöpfe der Einbildungskraft sind, deren Quell
wirklich in der Erfahrung gesucht werden muß, aus deren abstrahierten
Verhältnissen die Einbildung etwas gemacht hat, was zwar das
Allgemeine derselben enthält, aber ohne die Restriktionen, welche die
Natur mit denselben verknüpft hat, nicht stattfinden kann."
https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krva/krva016.html
[3]
https://philosophisches-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2018/12/PJ53_S427-43…
Seite 427 ff.
"Während die geometrischen Axiome nur Konventionen (Festsetzungen)
sind, hält Poincaré gegen Kant die L e h r s ä t z e' der Geometrie
für analytisch; aber auf dem Gebiete der Arithmetik dagegen behalte
Kant r e c h t 3)."
P.S.: Wie immer bei der Lektüre Kants kommt einen ein eigentümlich
idealistisches Gefühl auf.
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