Ich kenne Simone Weil nur vom Hörensagen. Das Schlüsselwort im Böll-Zitat ist vielleicht
"Konsequenz". Verlust des Vermögens, des Ansehens, der Gesundheit, des Lebens,
das spielte wohl alles keine Rolle. Da kann ich Bölls "Scheu" schon verstehen.
Man tut sich damit vielleicht leichter im festen Glauben, sich so die ewige Seligkeit zu
verdienen. So scheint sie aber auch nicht gewesen zu sein.
Sie war wohl nicht gläubig und hielt auch nichts von theoretischen Gottesbeweisen. Sie
sprach in einer späteren Lebensphase wohl von einer Erfahrung, die sie weniger ignorieren
könne als die der sie umgebenden Dinge. Das könnte man für Einbildung halten. Allerdings
scheint sie sonst ein eher realistischer Typ gewesen zu sein. Simone de Beauvoir, die man
als Vertreterin weltlichen Denkens in den Zeugenstand rufen könnte, hielt sie zumindest in
der Studienzeit nicht für durchgedreht. Konsequenz gehörte ja zum Existenzialismus,
Spinnerei aber nicht.
Wir kennen natürlich die Sorte von Mitleid, die den Bemitleideten als hoffnungslosen Fall
blosstellt, offen aus gesprochen mit einem "du kannst mir nur noch leid tun"
oder hinterhältig als Anteilnahme getarnt. Deswegen hätte z.B. John Wayne in seinen
Filmrollen nie jemanden bemitleidet, auch wenn ihm dieses Rollengefühl nicht fremd war.
Aber tut es anderen nicht gut, wenn man im Rahmen seiner Möglichkeiten nachfühlen kann,
wie ihnen zumute ist?
Claus
Am 13. Juni 2021, 03:02, um 03:02, Karl Janssen via Philweb <philweb(a)lists.philo.at>
schrieb:
[Philweb]
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Am 12.06.2021 um 16:12 schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
> Am 01.06.2021 um 14:50 schrieb Karl Janssen <janssen.kja(a)online.de>de>:
>> Schriftsteller bleiben gerne im Nebel der Metaphern und Analogien.
Verhält sich vielleicht Gnade zu Gerechtigkeit wie Zufall zu
Kausalität?
> Kurz hier hineingezwängt:
> Ja, ich bin der Meinung, dass diese
Relation besteht; denn die
Elemente beider Bezüge haben kein (absolutes)
Alleinstellungsmerkmal:
> Gerechtigkeit kann es ohne Gnade (Billigkeit
in juristischer,
Barmherzigkeit in christlicher und Nachsicht in humanistischer
Form)
nicht geben - ebenso wie Kausalität (als Element von Determination)
nicht ohne den Einfluss objektiven Zufalls (und sei er nich so gering)
einhergeht.
Hi Karl,
Dürrenmatt mag es auch so gesehen haben, aber was ist mit der
Sozialrevolutionärin
und Religionsfanatikerin Simone Weil?
Ich glaube nicht, dass sie „Religionsfanatikerin“ war - dazu war war
sie viel zu intelligent!
Aber sie war hin und her gerissen zwischen ihrem rigorosen (auch
körperlichen) Einsatz für die Menschlichkeit, geprägt durch eine
absolut selbstlos, jedoch definitiv nicht ideologisch angelegte
Soziabilität (sich das Elend von Mitmenschen hineindenken und dieses
mitfühlen können) und gleichermaßen radikal-utopischen
Idealvorstellungen von „Gott und der Welt“.
In ihrer kompromisslosen Art (gegen Andere wie aber auch gegen sich
selbst) würde sie heute wohl als „Fundamental-Aktivistin“ gelten,
sicher aber zu Unrecht.
Für meine Begriffe beschreibt H. Böll („Ansichten eines Clowns“ oder
„Irisches Tagebuch“ las ich als erste seiner Bücher) recht zutreffend
das Wesen dieser großartigen Frau (ich erlaube mit die Passage aus
Wikipedia zu übernehmen)
„Die Autorin liegt mir auf der Seele wie eine Prophetin; es ist der
Literat in mir, der Scheu vor ihr hat; es ist der potentielle Christ in
mir, der sie bewundert, der in mir verborgene Sozialist, der in ihr
eine zweite Rosa Luxemburg ahnt; der ihr durch seinen Ausdruck mehr
Ausdruck verleihen möchte. Ich möchte über sie schreiben, ihrer Stimme
Stimme geben, aber ich weiß: ich schaffe es nicht, ich bin ihr nicht
gewachsen, intellektuell nicht, moralisch nicht, religiös nicht. Was
sie geschrieben hat, ist weit mehr als ‚Literatur‘, wie sie gelebt hat,
weit mehr als ‚Existenz‘. Ich habe Angst vor ihrer Strenge, ihrer
sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen,
die sie mir auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahe käme. In
diesem Sinne ist sie nicht ‚Literatur als Gepäck‘, aber eine Last auf
meiner Seele. Ihr Name: Simone Weil.“ – Heinrich Böll[32]
Beachtenswert, dass Böll von „sphärischer Intelligenz“ spricht und
damit seinerzeit ebenso die von uns hier kürzlich thematisierte
„kosmische Intelligenz“ anführt.
In ihrer Textsammlung „Schwerkraft und Gnade“
soll sie die universale
Gravitation als Metapher für die allgöttliche Gnade
angesehen haben:
die eine ziehe nach unten, die andere wie das Licht nach oben.
Nun ja, „Gravitation“ war zu dieser Zeit noch nicht so sehr das Thema
der Philosophie.
Zitat: „Menschliche Mechanik: Wer leidet, sucht
sein Leiden anderen
mitzuteilen — sei es durch Misshandlungen, sei es dadurch, dass
er ihr
Mitleid hervorruft—, um es so zu vermindern, und derart vermindert er
es in der Tat. Wer ganz unten ist, wen niemand bedauert, wer über
niemanden Gewalt hat, den er misshandeln könnte (wenn er weder ein Kind
hat noch irgendein Wesen, das ihn liebt), bei dem bleibt das Leiden in
ihm und vergiftet ihn. Das ist unentrinnbar wie die Schwerkraft. Wie
kann man sich davon freimachen? Wie befreit man sich von dem, was wie
die Schwerkraft ist? Ist es nicht überdies eine anerkannte Tatsache,
dass die Astronomie aus der Astrologie, die Chemie aus der Alchimie
hervorgegangen ist? Aber man deutet diese Nachfolge als einen
Fortschritt, während es sich um einen Verfall der Aufmerksamkeit
handelt.“
Ich denke, dieses „Bild“ würde sie mit dem heute verfügbaren
naturwissenschaftlichen
Wissen nicht mehr benutzten.
Ziemlich wirres Zeug, wie ich finde, so dass ich
mir die Lektüre
nicht antun werde. Aber was ist mir Dir? Hast vielleicht schon mehr
von
Simone Weil gelesen? Wie konnte sie sich von der Sozialrevolutionärin
zur Religionsfanatikerin entwickeln und schlussendlich durch Verhungern
auslöschen?
Wie das an vielen anderen Menschenschicksalen (dieser Kategorie) ebenso
zu sehen ist, kann man im Angesicht seiner Idealvorstellungen zugrunde
gehen. Man muss sich wohl zu hinreichenden Teilen in die harte
Realität der Lebenswelt fügen.
In „absoluter Mitte“ zwischen deren Ideal und harter Realität zu
verweilen, gleicht dem Schicksal von Buridans Esel: am Ende bleibt nur
das Verhungern!
Welt, Kosmos und alles Leben ist ständiger unausweichlicher
„Überlebenskampf“. Jede Vorstellung oder Prophezeiung eines (wie auch
immer gearteten) Paradieses ist u-topisch, d.h. ein Paradies hat und
findet keinen Ort in Welten wie unserer.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
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