Moin Thomas,
ich verzettele mich zunehmend im Zusammendenken der vielen Ansätze. Bezogen auf die DKS
hatte ich Dich nicht missverstanden, da Du Dich hinreichend als Mythologe geoutet hattest.
Dem entspricht Deine Sicht, „die beobachtete Materialität“ als Illustration oder
Verwirklichung auf „das Wunder des Kohärierens“ zu beziehen und „Liebe als gelingende
Fügung“ aufzufassen. Statt „Glaube, Liebe, Hoffnung" liegen mir natürlich „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit" näher. Schiller war leider zu früh gestorben, um mit
seinen Philosophien der Freiheit und der Liebe voran zu kommen. Ich halte es eher mit
Sartre, der Liebe ja als sinnlose Leidenschaft ansah; heiße Liebe doch, eine Freiheit
besitzen wollen.
Ich verstehe die DKS im Kontext der Synergetik und die Kohärenz nicht als Wunder, vielmehr
dem Haken-Theorem genügend. Metaphorische Überhöhungen liegen mir fern und so schaue ich,
wie weit methodische Konstruktionen aus dem Alltag heraus weiter geführt werden können.
Vielerlei Aspekte dazu, "How Constraints Create Coherence“, hat Alicia Juarrero
kürzlich zusammengeschrieben in: "Context Changes Everything“, MIT Press 2023. Darin
behandelt sie DKS und Synergetics ebenso wie den Veteranen der Biophysik, Howard Pattee,
den ich noch nicht kannte. Juarrero’s Fazit fällt erfrischend nüchtern aus: „What can we
conclude from all this? Tearing down happens naturally. Creating coherence is an
energetically costly process: it takes a burst of entropy for context-dependent
constraints to irreversibly produce emergent coordination dynamics.“
In seinem Kommentar "Symbol Grounding Precedes Interpretation“ zu der Arbeit Deacon’s
"How Molecules Became Signs“ hebt Pattee hervor: "Deacon speculates on the
origin of interpretation of signs using autocatalytic origin of life models and Peircean
terminology. I explain why interpretation evolved only later as a triadic intervention
between symbols and actions. In all organisms the passive one-dimensional genetic
informational symbol sequences are converted to active functional proteins or nucleic
acids by three-dimensional folding. This symbol grounding is a direct symbol-to-action
conversion. It is universal throughout all evolution. Folding is entirely a lawful
physical process, leaving neither freedom nor necessity for interpretation. Similarly, the
initial converse action-to-symbol conversion of sensory inputs also leaves no freedom for
interpretation until after the action-to-symbol conversion.“
Der Streit um die Ursprünglichkeit und die Freiheit in der symbol-to-action bzw.
action-to-symbol conversion wird wohl noch lange anhalten. Ich sähe eine Auflösung des
Dissens natürlich tieferliegend in der Statistischen Physik, wie sie bspw. Hans Großmann
2016 in seiner Diss. vorgelegt hat: "On nonequilibrium statistical physics of
self-propelled particles -- from single-particle transport to emergent macroscopic
patterns“. KURZFASSUNG: „Die Strukturbildung von aktiver Materie ist ein Musterbeispiel
für Selbstorganisation fernab des thermodynamischen Gleichgewichts. Unter aktiver Materie
versteht man komplexe Systeme, welche aus selbst-angetriebenen Teilchen bestehen, die
über die Fähigkeit verfügen Energie aus ihrer Umgebung in Bewegungsenergie umzuwandeln.
Die vorliegende Arbeit trägt zur theoretischen Beschreibung von aktiver Materie bei. Das
Hauptanliegen ist die Verbindung der Transporteigenschaften von Einzelteilchen mit dem
kollektiven Verhalten, welches aus deren Interaktion resultiert. Dazu werden Gleichungen
für Observablen ausgehend von teilchenbasierten Modellen abgeleitet, wodurch die
Verknüpfung der Dynamik auf verschiedenen Längen- und Zeitskalen sowie unterschiedlichen
Komplexitätsstufen ermöglicht wird.“
Mehr als mythologischer Wunderglaube fasziniert mich das rationale Verständnis der
Strukturbildungen von aktiver Materie, die aus den konformen Reskalierungen der Äonen bis
hinunter zu den schwach wechselwirkenden Teilchen, nach denen als Urheber für die Dunkle
Materie bei DESY gefahndet wird, denn "feebly Interacting Particles (FIPs) might
offer the solution to (some of) the open questions beyond the Standard Models of particle
physics and cosmology. At DESY in Hamburg, three non-accelerator-based experiments will
search for FIPs as dark matter candidates (ALPS II, BabyIAXO) or constituting the dark
matter in our home galaxy (MADMAX).“ Quelle: "The DESY axion search program“ by D.
Heuchel et al. 2023.
IT
Am 12.11.2023 um 19:35 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich
<dr.thomas.froehlich(a)t-online.de>de>:
Lieber Ingo,
damit ich nicht missverstanden werde:
dass Leib und Seele eine konvergierende Einheit kohärierender Vorgangsmengen sind, besagt
noch nichts über das Wunder des Kohärierens an sich, im Sinn der jeweiligen Möglichkeit
der Selbsttranszendenz hin zur Aufnahme von Aspekten des je anderen Vorgehens, und eines
Hingeordnetseins kohärenzfühigen Vorgehens zu anderem Vorgehen, des ordinatur ad… wie es
bei Thomas von Aquin heißt.
Auf dieses Wunder kann man reflektieren, und die tatsächlich wieder und wieder erreichte
Passung kann man in verschiedenen Begriffen zu fassen versuchen, und einer davon ist
Liebe, als gelingende Fügung.
Die beobachtete Materialität steht in dieser Auffassung nicht gegen die Meta-Ebene der
Passung, Fügung, des Wunders des Zusammenhängens, sondern bestätigt es in jedem Einzelnen
als eine von deren möglichen Verwirklichungen.
Im dekontextualisierenden Vorgehen des Experiments und auch des sprachlichen Heraushebens
geht dieser Blick auf das grundsätzliche Wunder leicht verloren.
Wenn man auf den Ordnungsaspekt abhebt, ist der Begriff Psyche im erweiterten
aristotelischen Sinn angebracht, und mit diesem der Begriff Geist - aber eben nicht als
vom Stoffflich-Leiblichen Abgehobenes, sondern als gedanklich Herauszuhebendes.
Viele Grüße,
Thomas
Am 11.11.2023 um 12:03 schrieb Ingo Tessmann über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Am 11.11.2023 um 02:07 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Warum sollte ich Äquivalenzrelationen, bzw. -klassenbildungen ignorieren, Ingo? Meine
Neigung, insbesondere der hier im Kontext von Metaphysik diskutierten Themen bestimmte
Zusammenhänge paraphrasierend darzulegen, geschieht in der Absicht, diese durch derart
angelegte Abstraktion auf einfachere, lebenspraktische Weise auszudrücken. Paradoxerweise
kann das gelegentlich zu mehr Verwirrung führen, als man diese durch diese Art des
Abstrahierens vermeiden will.
Moin Karl,
Du hattest geschrieben: „Wer also sollte mit hinreichender Objektivität hier entscheiden,
ob „Geist und Materie überflüssige Metaphern oder bloße Abstraktionen sind, wie Du dies
zuletzt nun konstatierst. Ich frage mich, mit welchen Begriffen sonst sollte man die
objektiv gültige Tatsache der Existenz von Materie und damit die Benennung selbiger
belegen, steht sie doch als Inbegriff von Raum einnehmender Masse. Was ist daran Metapher,
was Abstraktion?“ Dabei ist nicht die Existenz der Materie eine objektiv gültige Tatsache,
sondern die Existenz des Elektrons bspw. Du benutzt die Gegenüberstellung von Geist und
Materie offensichtlich in der ideologischen Absicht, so wie angeblich Materie auch Geist
als objektiv gegeben ausweisen zu können.
Ebenso wie das Objektivieren ist Wissenschaft insgesamt menschengemacht. Und Du fragtest
doch explizit nach Abstraktion, obwohl wir das Abstrahieren seit 25 Jahren vielfach
behandelt hatten. Ebenso hält es JH bspw. mit dem angeblichen Henne-Ei-Problem und RF
sieht „nicht, wie man durch das Abstraktionsverfahren von IN auf IR kommt“, obwohl ich im
Kommentar zu meinem Text mit Verweis auf das ebenfalls wiederholt erwähnte Buch
„Differential und Integral" von Paul Lorenzen 2001 schrieb: „Konvergente Folgen z.B.
koennen auch Aequivalenzklassen bilden.“ Viele philosophische Probleme erwachsen schlicht
der Ignoranz alltags- wie laborpraktischer Bezüge.
Wie sollen wir hier weiter kommen, wenn Gewohnheit und Ignoranz dominieren? Auch global
erschweren Gewohnheit und Ignoranz jeglichen gesellschaftlichen und persönlichen Wandel.
Wenigstens hier im Kleinen könnten wir es besser machen, treten aber zumeist auf der
Stelle. Du fragst zugleich „Was ist daran Metapher, was Abstraktion?“ und „Warum sollte
ich Äquivalenzrelationen, bzw. -klassenbildungen ignorieren?“ Mir erscheint das absurd.
Aber Absurdität gehört zur Philosophie — und auch das hatten wir schon wiederholt
festgestellt. Vielleicht sollte ich über Deine Beiträge eher lachen anstatt sie ernst zu
nehmen.
Interessant demgegenüber der Schlusssatz aus dem von Thomas verlinkten Artikel: "The
mind increasingly appears to be a particular manifestation of certain energized material
forms. The conceptual path leading from physical to mental may finally be opening up.“
IT
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