Am 10. August 2025 18:34:53 MESZ schrieb "Rat Frag über PhilWeb"
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Hallo,
ich hatte folgende Überlegung, über die ich mit euch diskutieren wollte:
Zur Beurteilung des Verhaltens eines Menschen ziehen wir nicht
ausschließlich sein Verhalten heran, sondern betrachten auch die
Gründe und Motive, die eine Person für ihre Handlungen hat.
Damit wir uns ein begründetes Urteil über das Verhalten einer Person A
erlauben können, darf es also kein urteils-relevantes Geheimwissen
geben.
Hohes Gericht,
Ein überzeugend begründetes Urteil, das der Überprüfung durch die nächste Instanz
standhält, ist m.E. eins, das den Sachverhalt so gründlich wie möglich ermittelt und die
Gesetze ohne rechtliche Fehler auf ihn anwendet.
Urteilrelevantes Geheimwissen könnte sein: ein Zeuge hat nicht oder unvollständig
ausgesagt, der Angeklagte selbst hat etwas verschwiegen, das für die Urteilsbildung von
Bedeutung ist.
Das könnten Berufungs- oder Revisionsgründe sein oder nach Rechtskraft Gründe für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens.
Um den Term "relevantes Geheimwissen" zu
klären, versuche ich diesen
wie folgt umzuformulieren:
"Es existiert kein Wissen, über welches die Person A verfügt, die
Öffentlichkeit aber nicht, und das, falls es die Öffentlichkeit wissen
würde, ihr Urteil über die Person A verändern würde".
Öffentlichkeit ist hier die Gesamtheit aller außenstehenden
Individuen, also praktisch alle anderen Menschen.
Hier geht es um den Fall, daß der Angeklagte selbst etwas verschwiegen hat.
Etwas stümperhaft könnte man dies so formalisieren:
¬∃(w) (P_w (w,A) & ¬P_w (w,O) & (P_w (w,O) -> U (A,O))
(w steht für Wissen, P_w bedeutet _wird gewusst von_, U bedeutet so
etwas wie "_ändert sein Urteil ab über_". A bezeichnet die Person A, O
die Öffentlichkeit.)
Wie man sieht, könnte man das auch so umformulieren, dass alles Wissen
in eines der folgenden drei Kategorien fallen muss:
1. Entweder das Wissen ist auch der Person A unbekannt,
Es ging voraussetzungsgemäss doch um Wissen, über das erstens A verfügt und zweitens die
Öffentlichkeit nicht.
2. Oder das Wissen ist öffentlich Zugänglich,
Dann ist es kein Geheimwissen. Das Gericht hat die verfügbaren Quellen nicht ausgeschöpft
und das Urteil wird in der nächsten Instanz aufgehoben.
3. Oder das Wissen würde, wenn die Öffentlichkeit davon
wüsste,
sowieso nichts an ihren Urteil ändern.
Dann wäre es nicht urteilsrelevant, was es voraussetzungsgemäss sein sollte.
Vielleicht missverstehe ich diese Perle rabbinischer Gelehrsamkeit, weil ich bei der
Formalisierung etwas ins Schleudern komme?
Man urteilt so gut man kann, ist sich aber darüber im klaren, daß man sich irren könnte.
Deshalb kann das Urteil korrigiert werden, ausnahmsweise sogar nach Rechtskraft trotz
Störung des Rechtsfriedens (irgendwann muss es mal gut sein).
Schön, daß du wieder da bist.
Claus
Der Fall (1) ist natürlich trivialerweise das Unbekannte. Es ist eine
Konstante des menschlichen Lebens, nicht allwissend zu sein. Der Fall
(2) ist ebenfalls trivial.
Die wichtigste Klausel scheint somit die Nummer (3) zu sein.
Die Frage lautet jetzt "Ist alles Geheimwissen wirklich irrelevant für
die Urteilsbildung der Öffentlichkeit?"
Paradoxerweise könnte die Haltung eines wahren Philosophen zu dieser
Frage sein, sie unbeantwortet zu lassen. Sie in der Schwebe zu halten,
da er nie genau wissen kann, ob es nicht ein Geheimnis gibt, dass das
Verhalten der anderen Person als gerechtfertigt erscheinen lässt.
Wie seht ihr das?
MfG,
RT
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