Lieber Karl,
ich danke Dir für Deine einfühlsame Schilderung!
Die Energie, von der Du sprichst, ist Mit-Teilungs-Energie, im Sinn des quellgebundenen
Teilens einer gemeinsamen „semantischen Achse“, oder wie man die Konvergenz-Dnamik auch
immer bebildern mag.
Quellgebunden heißt im Fall von Menschen und menschlicher Liebe auch leiblich, „aus dem
Bauch oder von Herzen“ als semantischem Ort kommend.
Die in meinen Augen derzeit beste Philosophie zum Thema Leiblichkeit wurde vom
Phänomenologen Hermann Schmitz entwickelt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Schmitz_(Philosoph)
<https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Schmitz_(Philosoph)>
Auf sie wird durch Ärzte und Psychotherapeuten oft zurückgegriffen.
Die Energie, von der Du schreibst ("Insoweit sollte jeder einfühlsame Mensch
erkennen, dass hier benannter Aufwand - also Energie - zum Erreichen und Erhalt eines
gemeinschaftlichen Zusammenwirkens (resp. Zusammenschwingen als eben Kohärenz) keine
bloßen Worte sind, sondern diesbezügliches „enacting“ tagtäglich von wirklich sehr vielen
Mensch betrieben wird. „)
ist sicher keine metrische, sondern eine obligatorisch quellgebundene, prozessuale und in
wechselseitiger Information befasste „Energie“. Das heißt, sie setzt an der Gegebenheit
distinkter, Perspektive-stiftender Quellen, an deren die Quellen als Potentiale
verwirklichendem Tätigsein, an spezifisierender Kontaktaufnahme und der Erfassung und
schließlichen Hereinnahme von Aspekten des anderen an.
Bei so vielen an die Struktur, Perspektive und Mitteilungsfähigkeit der Beteiligten
gebundenen Voraussetzungen gewinnt der Energiebegriff einen inhaltreichen, Zeit- und Orts-
und jeweils Qualitäts-bezogenen Charakter, er ist in einem jeweiligen Innen gegründet, das
sich konstitutiv von seinem Außen unterscheidet.
Die überwölbende Gemeinsamkeit ist nicht einfach, wie der metrisch gedachte Raum und die
metrisch gedachte Zeit gegeben, sondern muss im Streben und aufeinander bezogenen Handeln
„mühevoll“, das heisst unter Einsatz von Arbeit erstellt werden. Sie muss erarbeitet
werden.
Ergon heißt ja das Werk, die Arbeit, und quellgebundene, prozessuale und in
wechselseitiger Information befasste „En-ergie“ ist das Werk miteinander komminizierender
Quellen. (Energeia heißt bei Aristoteles ja die Verwirklichung der dynamis, der Quelle,
des Potentals).
Die allgemeinste Form des Gegenüber ist ein die Jeweiligkeit aller Quellen
transzendierendes, dabei aber mit diesen verbundenes, selbst nicht jeweiliges Gegenüber.
Für diese Paradoxie des Selbst-Seins, das zugleich jedwedes Selbst-Sein transzendiert
dient die Bezeichnung „Gott“.
Mein philosophisch-philologischer Ratgeber Arbogast Schmitt hat hierzu ein Buch
geschrieben:
https://brill.com/display/book/9789004443570/BP000018.xml
<https://brill.com/display/book/9789004443570/BP000018.xml>
© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004443570_014
Arbogast Schmitt: Gibt es ein Wissen von Gott?
Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff
(Studien zur Literatur und Erkenntnis, Band 17),
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, 251
Seiten
Ich zitiere aus der o.g. Besprechung:
Gegen viele Fehlinterpretationen streicht er immer wieder heraus, dass Aris-
toteles die Herleitung des Wissens von den Dingen gerade nicht „auf transzen-
dente, ewige Ideen und Prinzipien gründen, sondern aus der ihnen immanen-
ten Substanz erklären wollte.“ Er habe „viele Reflexionen über die Methoden
und Prinzipien einer richtigen Naturbetrachtung angestellt“ (12), auf die der
Autor mehrfach zurückgreift. Weil die Moderne dieses wissenschaftliche Pro-
gramm ausblendet, sieht sich der Autor veranlasst, stets aufs Neue die Bedeu-
tung der methodischen Reflexion von Aristoteles einzuholen und hinsichtlich
ihrer Sachbezogenheit durchzuspielen. Die Aufklärung legt den Akzent auf die
Mächtigkeit der Vernunft und auf die Erfahrung als Grundlage für die Bestim-
mung der Dinge, während Aristoteles die Fähigkeit des Unterscheidens als Basis
aller Erkenntnis in der Begegnung mit den wirklichen Dingen zur Anwendung
bringt.
Während die Neuzeit dem Denken die Aufgabe der Repräsentation, Verge-
genwärtigung und Erhebung ins Bewusstsein zuschreibt, verfügt Aristoteles
weder über einen Begriff von Bewusstsein noch von mentaler Rekonstruktion.
In seiner Wissenschaftstheorie, den Zweiten Analytiken, bestimmt er vielmehr
alle Bedingungen in methodischer Folge, um das zu ermitteln, was genau ein
bestimmtes ‚distinktes‘ Etwas-Sein hat. Im Ergebnis stellt er fest: Dieses rein
für sich selbst erkennbare Sein ist kein einzelner Gegenstand, auch kein idealer
Gegenstand. Es wird vielmehr als die Summe ganz bestimmter Möglichkeiten
erkannt, als Bestimmtes zu sein (z.B. ein Dreieck oder ein Mensch).
Dieses Sein ist aber deshalb nicht etwas nur Gedachtes, es ist im Gegenteil
etwas, von dem man das sicherste und tatsächlich ein allgemeingültiges
Wesen hat. Das so Erkannte ist wirklich, was es ist, und es existiert auch
als dieses Erkannte. (17)
Sein ist daher das innere Maß des Denkens selbst. Über dieses Maß verfügt das
Denken apriori.
In diesem Zusammenhang interessant ist auch:
Arbogast Schmitt, Denken ist Unterscheiden. Eine Kritik an der Gleichsetzung von Denken
und Bewusstsein (Studien zu Literatur und Erkenntnis, Band 18), Heidelberg 2020, 239
Seiten
siehe
https://brill.com/display/book/edcoll/9789004501881/BP000014.xml?language=de
<https://brill.com/display/book/edcoll/9789004501881/BP000014.xml?language=de>
So viel zum frühen Abend,
ich Danke Dir nochmals für Deine Ausführungen,
mit besten Grüßen,
Thomas
Am 16.11.2023 um 12:44 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Am 15.11.2023 um 12:49 schrieb Dr. Dr. Thomas
Fröhlich über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Mittels AI werden Kohärenzen als im Bayesschen Sinn wahrscheinlich unterstellt, und je
nach Größe der Datenbanken sind die Ergebnisse ja furchterregend treffend - etwa Imitate
philosophischer Schriften etc.
Was wohl fehlt, ist etwas, das über vorhandenes Wissen (z. B. Geschriebenes) hinausgeht,
der Blick über den Tellerrand, das in-Frage-Stellen von Denkgewohnheiten, das neu
Anordnen, das Rekontextualisieren.
Und erst ab da würde es nicht nur amüsant, sondern auch spannend.
„Furchterregend treffend“:
Künstliche Intelligenz (KI) wird - neben vielen begrüßenswerten Hilfestellungen -
definitiv zu einer Art Entmenschlichung führen.
Mit Menschlichkeit beziehe ich mich jetzt nicht auf für den Menschen typische, formative
Verhaltensweisen seiner gesellschaftlichen Alltagsgestaltung, sondern im Sinn einer
hinreichenden Einfühlsamkeit gegenüber seinen Mitmenschen und der daraus resultierenden
Wechselbeziehung, i.w. also interaktive, wohlwollende Kommunikation.
Damit verbinde ich Charaktereigenschaften wie Mitgefühl, nicht ausschließlich gemäß
Schopenhauers Mitleidsethik, nach der ein „Mitleiden“ im wirklichen Wortsinne gemeint ist,
sondern ein eher rationales Mitfühlen, ein umsichtiges Eingehen auf die Not, das Leid
eines anderen Lebewesens; Christlich ausgedrückt als Ethik der Mitgeschöpflichkeit, wobei
Religion (i.w. gemäß des Dekalogs) nicht alleinige Maßgabe ethischen Verhaltens sein kann,
denn Mitleid, Mitgefühl sind im menschlichen Bewusstsein per se vorhanden, auch wenn diese
Eigenschaften nicht selten durch die Sinne belastendes Alltagshandeln verschüttet sind.
Die Frage ist nun, ob benannte Eigenschaften wie Mitleid, (Nächsten-)Liebe, Güte,
Hilfsbereitschaft, Wohlwollen (Milde, Billigkeit), Toleranz, etc. in Maschinencode (nichts
anderes ist KI) programmiert werden können.
Meiner Meinung nach nicht und ich habe abertausende Zeilen Programmcode als IT-Ingenieur
geschrieben.
Gefühle lassen sich nicht programmieren, allenfalls artifiziell durch Rechner/Roboter
ausdrücken, wie etwa durch Chatbots: „Es tut mir leid, von Dir zu hören….“. Es kommt
beispielsweise nie und nimmer der tröstenden Umarmung eines liebenden Menschen gleich, wie
etwa einer Mutter, die ihr krankes Kind im Arm wiegt. Will die Mutter nun wissen, was
ihrem Kind fehlt, könnte sie durchaus hilfreiche Unterstützung von einem Chatbot erhalten,
nicht jedoch die zum Erkennen vieler Krankheit erforderliche Gesamtsicht auf das
Geschehen, insbes. aber das Gefühl, eben das Vermögen zu menschlicher, im besten Fall zu
liebevoller Einfühlsamkeit medizinischen Personals.
Es ist die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, die gewissermaßen naturgegeben ein auf beide
abgestimmtes Zusammenwirken auslöst, wie eben auch zwischen sich liebenden, bzw. sich in
Sympathie verbundenen Menschen, eine Verbindung, die man umgangssprachlich auf „gleicher
Wellenlänge“ schwingend verbunden sind. Das ist interagierende Kohärenz. Dieses liebevoll
aufeinander abgestimmte „Zusammenschwingen“ ist nicht ohne Aufwand zu erreichen. Es kostet
Einsatz, Aufwand, Energie eben und diese aufzubringen, erfordert in erster Linie
liebevolle Zuwendung. Jedes Mitglied einer hilfeleistenden Institution oder Organisation
wird die zermürbenden Einsätze nur leisten können, wenn grundsätzliche Liebe zum
Mitmenschen gegeben ist. Wie fürchterlich und unbegreiflich, wenn – wie immer wieder zu
sehen – Menschen das nicht zu würdigen wissen oder sogar noch Missbilligung zeigen.
Insoweit sollte jeder einfühlsame Mensch erkennen, dass hier benannter Aufwand - also
Energie - zum Erreichen und Erhalt eines gemeinschaftlichen Zusammenwirkens (resp.
Zusammenschwingen als eben Kohärenz) keine bloßen Worte sind, sondern diesbezügliches
„enacting“ tagtäglich von wirklich sehr vielen Mensch betrieben wird.
Gemeinsam wirklich verbunden zu sein, setzt ein „in Resonanz sein“, also einen
Gleichklang voraus. Für Christen bedeutet das, dass sie ausschließlich nur mit einem
Göttlichen in Verbindung kommen, wenn sie in Resonanz mit der „Schwingung“ dieses von
ihnen gespürte transzendenten Wesens kommen, das mag in tiefer Kontemplation und
entsprechender Innen-Außen-Transformation gelingen, ein ernsthaft tiefes Gebet etwa und
niemals pures Lippenbekenntnis. Letzteres ist – wie immer – für Christen unter uns hier
geschrieben.
Und nun – zur Vervollständigung des Ganzen – Ingo T.:
„Liebe macht blind und abhängig und duldet so mache Demütigung und Unterdrückung. Deshalb
hat Virginia Woolf die Liebe neben der Religion als gleichermaßen verabscheuungswürdig und
zerstörerisch angesehen.“
Da mag sich hier jeder seine eigenen Gedanken machen. Wer es simpel mag: Man kann mit
einem Hammer Häuser bauen, aber auch Menschen erschlagen. Zwischen Gebrauch und Missbrauch
liegt bisweilen nur eine winzige Distanz, geeignet zum Übersprung abstruser Ideen und
Beschreibungen.
Mit bestem Gruß in die Runde! - Karl
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