Hi IM,
ja, Aufklärung und Moderne sind ein weites Feld. Und wir sind bereits in das folgende
Anthropozän hineingeboren worden. Unsere Eltern gehörten noch zur Generation Feyerabends
und hatten Faschismus und Krieg überstanden. Feyerabend blieb als Soldat nicht unverletzt
und musste auf eine Ausbildung zum Sänger verzichten. Der Wiener Physiker Karl Svozil
beschließt seinen Artikel: "Feyerabend and physics“ mit einigen persönlichen
Anmerkungen:
"In the spring semester 1983, I attended a course of Feyerabend on the philosophy of
science in Berkeley during my stay as a visiting scholar at the Lawrence Berkeley
Laboratory and the University. Feyerabend made a sad but rebellious impression, best
described by the German word “unerfüllt,” whose English translation is “unrealised,
unfulfilled.” His spirits were strong and he gave a quite good performance.“
https://arxiv.org/abs/physics/0406079 <https://arxiv.org/abs/physics/0406079>
Zeitlebens schwankte Feyerabend zwischen Kunst und Wissenschaft und machte die Kunst- und
Wissenschaftsgeschichte zu seinen Steckenpferden. Wir können daraus das gemeinsame
Bedenken von Malerei und Optik ziehen. Von der Perspektive zur projektiven Geometrie, von
der Lichtbrechung über das Sonnenspektrum zur kosmischen Hintergrundstrahlung bzw. von
Dürer über Caspar David Friedrich und William Trurner sowie Edward Munch und Otto Dix bis
Anselm Kiefer (die letzten beiden werden gerade in den Hamburger Deichtorhallen gezeigt).
Kant durchlebte eine vorkritische und eine kritische Phase in seinem Schaffen, Feyerabend
dagegen wandelte sich vom Rationalisten zum Methodenpluralisten. Über seine Wiener
Lehrjahre hat sich Daniel Benjamin Kuby in seiner Diplomarbeit Gedanken gemacht:
„Rational zu sein war damals für uns eine Lebensfrage. Studien zu Paul Feyerabends Wiener
Lehrjahren“.
https://utheses.univie.ac.at/detail/8709#
<https://utheses.univie.ac.at/detail/8709#>
Kant begann in der Folge Newtons 1755 ja mit Naturphilosophie: „Allgemeine Naturgeschichte
und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des
ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt“. Knapp 200 Jahre später
knüpfte Feyerabend mit seiner Dissertation „Zur Theorie der Basissätze“ noch an die
wissenschaftliche Weltauffassung des in der Tradition Kants stehenden Wiener Kreises an.
Beeinflusst von Popper und Wittgenstein wandte sich Feyerabend dann aber schnell vom
Wiener Kreis ab — und der Wissenschaftsgeschichte zu, indem er 1958 in Berkeley auf Thomas
Kuhn traf, der sich ebenfalls von der Physik kommend dem tatsächlichen und nicht
analytisch verkürzten Verständnis von Wissenschaft zugewandt hatte.
Ausgerechnet im Anschluss an ein Seminar 1965 in Hamburg bei von Weizsäcker über die
Grundlagen der Quantentheorie bekennt sich Feyerabend dann zum „Anarchismus". In
seiner Autobiographie schreibt er dazu: „A person trying to solve a problem whether in
science or elsewhere must be given complete freedom and cannot be restricted by any
demands, norms, however plausible they may seem to the logician or the philosopher who has
thought them out in the privacy of his study. … Thus Professor von Weizsäcker has prime
responsibility for my change to “anarchism“ — though he was not at all pleased when I told
him so in 1977.“
IT
Am 17.02.2024 um 22:12 schrieb ingo mack über PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hallo ins Philweb, hallo IT,
Du verstehst es wirklich, sehr komplexe Dinge auf ein Minimum
an Fragestellung zu verkürzen.
Zitat:
Hi IM,
das sprachlich-technische Zusammentreffen der beiden
unterschiedlichen Bewusst-seine aufeinander hat doch einen
gemeinsamen Ursprung; denn nicht nur die Galaxiendynamik,
auch das Konnektom ist nur simulierbar, interessanterweise
aber im gleichen Kontext der Riemannschen Geometrie
darstellbar.
Dabei können Bewusstseine nicht nur synchron, sondern auch
diachron aufeinandertreffen. Wie unterschiedlich wären bspw.
diejenigen sprachlichen Bewusstseine Kants und Feyerabends,
auf die ich kürzlich Bezug nahm?
IT
Zitat Ende.
seit nunmehr 8 Tagen ist diese Frage unbeantwortet;
ich verstehe mittlerweile, dass es eine sehr gute Frage ist.
einen Vergleich zwischen einem Urgestein der Moral aus dem 18.
Jahrhundert und einem aus all dem entwachsenen Experten aus
der "Neuzeit des Denkens" anzustellen erfordert nach meinem
jetzigen Kenntnisstand noch viel Muse meinerseits.
bin dabei, habe schon ein paar Zusammenhänge für mich
"grundsätzlich" geöffnet, das heisst aber noch lange nicht, daß
ich mich in der Lage fühle, wertende Aussagen mit Substanz
abzuliefern. es dauert, wie lange kann ich noch nicht sagen, zu
unterschiedlich sind die Persönlichkeitsprofile von Kant und
Feyerabend; dazu kommt dass die "Neuzeit" ein weites Feld
stürmischer Entwicklungen ist. was heute noch gilt, ist morgen
schon Schnee von Gestern;
Kant hatte dieses schnelllebige Zeitgeschehen vermutlich nicht
vor Augen und Feyerabend war es nicht anders gewohnt,
(vermutlich).
aber trotzdem: ich bin dabei:)
danke für diese sehr interessante Frage.
gruss aus der Diaspora
ingo mack