Am 13.06.2021 um 03:02 schrieb Karl Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
„Die Autorin liegt mir auf der Seele wie eine Prophetin; es ist der Literat in mir, der
Scheu vor ihr hat; es ist der potentielle Christ in mir, der sie bewundert, der in mir
verborgene Sozialist, der in ihr eine zweite Rosa Luxemburg
<https://de.m.wikipedia.org/wiki/Rosa_Luxemburg> ahnt; der ihr durch seinen Ausdruck
mehr Ausdruck verleihen möchte. Ich möchte über sie schreiben, ihrer Stimme Stimme geben,
aber ich weiß: ich schaffe es nicht, ich bin ihr nicht gewachsen, intellektuell nicht,
moralisch nicht, religiös nicht. Was sie geschrieben hat, ist weit mehr als ‚Literatur‘,
wie sie gelebt hat, weit mehr als ‚Existenz‘. Ich habe Angst vor ihrer Strenge, ihrer
sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen, die sie mir
auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahe käme. In diesem Sinne ist sie nicht
‚Literatur als Gepäck‘, aber eine Last auf meiner Seele. Ihr Name: Simone Weil.“ –
Heinrich Böll[32] <https://de.m.wikipedia.org/wiki/Simone_Weil#cite_note-32>
Beachtenswert, dass Böll von „sphärischer Intelligenz“ spricht und damit seinerzeit
ebenso die von uns hier kürzlich thematisierte „kosmische Intelligenz“ anführt.
Hi Karl,
der Verweis auf Böll ist passend, den Bezug auf Rosa Luxemburg halte ich aber für
verfehlt; wenngleich die vier Frauen: Hannah Arendt, Rosa Luxemburg, Edith Stein und
Simone Weil oft in Verbindung gebracht werden. Zu Böll habe ich ein ebenso zwiespältiges
Verhältnis wie zu Dutschke, auch ein Sozialrevolutionär und Christenmensch. Beide
orientierten sich ja nicht an der Kirche, folgten vielmehr dem Urchristentum, gesehen als
Widerstandsbewegung gegen die römische Obrigkeit. Hält man den Sozialismus für ein
säkulares Christentum, ist der Zusammenhang beider nicht so fernliegend wie er mir immer
wieder erscheint. Aber Arendt ebenso wie Luxemburg blieben konsequent weltlich, während
Stein und Weil ins Religiöse abdrifteten.
Und so sehe ich die „sphärische Intelligenz“ eher als Gegensatz zur „kosmischen
Intelligenz“, ist die eine doch literarisch, die andere mathematisch gemeint. Und schon
sind wir wieder beim Gegensatz von Texten und Formalismen bzw. Literatur und Mathematik;
wobei ich gerade daran denken muss, dass Simones Bruder Andre ja Mathematiker war. Eine
Verbindung zwischen den beiden so verschiedenen Geschwistern hat Ochiai Hitoshi formuliert
in: "The Theology of Simone Weil and the topology of Andre Weil“.
Andre war ein genialer Mathematiker, an der Intelligenz Simones aber habe ich meine
Zweifel; denn „findet man die Fülle der Freude in dem Gedanken, dass Gott ist, so soll man
die gleiche Fülle in der Erkenntnis finden, dass man selbst nicht ist, denn das ist ein-
und derselbe Gedanke“. Das klingt für mich eher wahnhaft als durchdacht. Und so möchte ich
lieber wieder mit einem um so schöneren Gedicht Emily Dickinsons schließen, zumindest mit
den letzten Zeilen aus Nr. 996, die auch in Verbindung mit der Schwerkraft gelesen werden
können, einfach genial:
„Ich hauste so als wär Ich draußen,
Und bloß mein Körper drin
Bis eine Kraft mich da entdeckte
Und pflanzt’ den Kern mir ein —
Da wandte sich der Geist zum Staub
`Du kennst mich, alter Freund’,
Die Zeit ging aus um’s zu berichten
Und traf die Ewigkeit“
IT