Am 12.05.2021 um 07:44 schrieb Landkammer, Joachim via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Liebe Liste,
darf ich die Frage in die hier versammelte Expertenrunde werfen: was ist von dem heute
(12.6.) im Feuilleton der FAZ erschienenen Artikel von Dietmar Dath zur "modalen
Homotopietypentheorie" (HoTT) von David Corfield zu halten? Die hier meist
schreibende und lesende Gemeinde scheint ja offenbar vertraut (viel vertrauter als ich,
zumindest) mit all diesen (scheinbar) neuesten Strömungen der (post-?)analytischen
Wissenschaftsphilosophie und Logik, daher würde mich interessieren, was hierzu gesagt
wird:
- wie relevant und wie sachgerecht wird die Darstellung von Dath eingeschätzt?
- was muß man auch als nicht spezifisch interessierter, trotzdem den sog. "Puls der
Zeit" nicht ganz ignoriend-wollender Philosoph davon verstehen und wissen? Gibt es
simple, auch dem "Laien" zugängliche Alltags-Anwendungen und -Folgen für die
neuen Erkenntnisse? (Dath deutet das immerhin an)
- was genau ist daran neu, weiterführend, revolutionär? Oder: wie hot ist HoTT?
Hi Joachim,
ich lese nicht die FAZ, habe aber einige Bücher Daths gelesen: Dirac, Waffenwetter, Die
Abschaffung der Arten, Pulsarnacht, Der Implex, Der Schnitt durch die Sonne. Aktuell
schmökere ich in seiner Niegeschichte zur SciFi. Was ich an ihm schätze, ist, dass er
nicht vor etwas Mathematik in der Literatur zurückschreckt, sie vielmehr zu verbandeln
sucht, was im SciFi-Genre ja auch naheliegt. Sein Buch "Du bist mir gleich“, in dem
es auch um HoTT geht, habe ich noch nicht gelesen.
Reine Mathematiker interessieren sich nicht für Anwendungen, sie erfreuen sich an der
Komposition und dem Zusammenspiel neuer Strukturen, wobei HoTT bereits hilfreich dabei
ist, algorithmisch mehr Beweise zu finden oder vorhandene zu überprüfen. Philosophisch
interessant scheint mir die Verbindung von Logik und Pfaden bzw. Typentheorie und
Topologie. Wie aus der Topologie die Homotopie abstrahiert und die Russellsche
Typentheorie so erweitert wurde, dass sie zusammengenommen eine neue Grundlage der
Mathematik bilden könnten, hat gerade der Mathematiker Stefan Müller-Stach
allgemeinverständlich mitbehandelt in: Äquivalenz und Wahrheit, spez. KAPITEL 9,
Typentheorie und ihre Semantik:
https://www.staff.uni-mainz.de/stach/Wahrheit.pdf
<https://www.staff.uni-mainz.de/stach/Wahrheit.pdf>
Die "Homotopy Type Theory“ zu den "Univalent Foundations of Mathematics“ ist
frei zugänglich:
https://hott.github.io/book/nightly/hott-letter-1287-g1ac9408.pdf
<https://hott.github.io/book/nightly/hott-letter-1287-g1ac9408.pdf>
Wie angesagt das Programm zur Grundlegend der Mathematik ist, wird diskutiert in: „A New
Foundational Crisis in Mathematics, Is It Really Happening?"
https://arxiv.org/pdf/1802.06221.pdf <https://arxiv.org/pdf/1802.06221.pdf>
Vorerst wird es beim Strukturenpluralismus in der Mathematik bleiben, welche sich aber
später einmal bspw. in der Physik nutzen lassen werden, ist nicht vorhersehbar. In der
Rückschau allerdings verwundert es immer wieder, wieso die Leute nicht eher darauf kamen,
in den neuen Strukturen auch funktionierende Physik zu sehen. Ich bin ja gerade ins 19.
Jahrhundert eingetaucht und denke daran, wie viel der erst im nächsten Jahrhundert
entwickelten Physik oder Informatik bereits in den mathematischen Strukturen des
Jahrhunderts zuvor enthalten war: Z.B. die Quarternionen in der Computergrafik, die
Cliffordalgebra als gemeinsame Grundlage der physikalischen WW oder die Oktonionen als
Basis der visionären SUSY GUT.
IT