Am 03.09.2019 um 02:41 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Nun hatten wir hier ja bereits über Bewusstsein (an sich) und Hirnentwicklung
geschrieben. Ein Ergebnis der evolutionären Hirnentwicklung ist Bewusstsein definitiv,
inwieweit es sich lediglich als Nebeneffekt ergeben hat, könnte hier noch lebhaft
diskutiert werden.
Meiner (teleologisch angelegten) Weltsicht entsprechend ist Bewusstsein eine im Verlauf
der Hominisation sinnvollerweise entwickelte, lebensdienliche Instanz, mittels derer sich
der Mensch durch Selbstbeobachtung in seinem Lebensumfeld (und eben auch dieses) zu
erkennen vermag. Die neurobiologische Voraussetzung für die hierzu erforderlichen
kognitiven Funktionen (integrative, polysensorische Informationsverabeitung) ist der
evolutionär (spät) angelegte Assoziationskortex, also die beim Menschen starke Ausprägung
des Neocortex durch Entfaltung assoziativer Areale.
Hi Karl,
nach wie vor sind uns Bewusstsein, Zeit und Gravitation so rätselhaft geblieben wie dunkle
Materie, dunkle Energie und Nullpunktsenergie. Meine Oma zitierte bei passender
Gelegenheit gerne aus dem Gesangbuch die Zeilen des christlichen Mystikers Tersteegen:
"Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne
mein Heim ist nicht von dieser Zeit.“
Als aufgeklärter Zeitgenosse denke ich beim „Jenseits“ natürlich nicht an irgendwelche
Hirngespinste, sondern folge lieber der "Poesie des Universums“, wie sie uns
beispielsweise in den stringy braneworlds präsentiert wird. Womöglich ist unser
Bewusstsein so etwas wie die zeitgeordnete Folge einiger relevanter Ereignisfolgen aus dem
hirnphysiologischen Untergrund. Und im Extremalprinzip der Wirkung scheint so etwas wie
die Zeitordnung der Energie auf.
In „Raum, Zeit, Materie“ des Mathematikers Hermann Weyl ist zu lesen: "Die Urform des
Bewusstseinsstromes ist die Zeit. Die objekte Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht.
Nur vor dem Blick des in der Weltlinie meines Leibes emporkriechenden Bewußtseins
‚lebt' ein Ausschnitt dieser Welt ‚auf' und zieht an ihm vorüber als räumliches,
in zeitlicher Verwandlung begriffenes Bild. Reißen wir uns in der Reflexion heraus aus
diesem Strom und stellen uns seinen Gehalt als ein Objekt gegenüber, so wird er uns zu
einem zeitlichen Ablauf, dessen einzelne Stadien in der Beziehung des früher und später zu
einander stehen.“
Und „wie die Zeit die Form des Bewusstseinsstromes, so, darf man mit Fug und Recht
behaupten, ist der Raum die Form der körperlichen Wirklichkeit.“ Hinsichtlich des
Umschreibens von Veränderung hatte ja schon Aristoteles Form und Materie herangezogen. Ein
quantitativer Zusammenhang kosmischen Ausmaßes gelang aber erst Jahrtausende später dem
Invarianz- oder Extremalprinzip folgend in der Riemannschen Geometrie. Welch eine
Bewusstseinserweiterung! Ein ähnlicher Erfolg beim Verstehen des Zusammenhangs zwischen
Bewusstseins-Form und Hirn-Materie steht leider noch aus.
Erlebnisreich ist unser Bewusstsein zweifelsohne,
wenngleich sich der überwiegende Teil unserer Wahrnehmungen, Empfindungen sich dem
Wachbewusstsein entzieht und dabei essentiell, aktivierende Bewusstseinsprozesse im
hochkomplexen neuronalen Netzwerk des Hirnstamms (Retikulärformation) ablaufen.
Erlebnisbezogen kann man menschlichem Bewusstsein sicher die Befähigung (hinreichend)
innerer Repräsentation der Außenwelt zuschreiben. Dies tangiert die hier ebenso schon
behandelte Thematik von Handlungsfreiheit/Freien Willen und der damit verbundenen
individuellen Handlungs-Verantwortung. Dennoch bleibt die Frage: Sind Menschen (notwendig
mehrheitlich) in der Lage, ihrer Handlungsverantwortung für diese unsere Lebenswelt
nachzukommen?
Der wesentlich menschengemachte Klimawandel mit seinen zu erwartenden Folgen ist nur von
Wenigen im Detail nachvollziehbar, aber der Vergleich zwischen dem Fieber eines Menschen
und dem „Fieber" der Biosphäre müsste eigentlich jedem normalsinnigen Menschen
einleuchten. Es ist wohl das unterschiedliche Zeitmaß, das die meisten Menschen von
sofortigen Konsequenzen absehen lässt. Dabei nützt natürlich der langfristige Vorteil für
alle auch dem Einzelnen, nur nicht sofort. Das Problem ist ja als die "Tragödie des
Gemeinwohls" bekannt.
Passend zum Thema Zeit wird der diesjährige Germanistentag veranstaltet: „Kann man Zeit
erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Diese Frage lässt Thomas Mann seinen
Erzähler im Zauberberg stellen. Der Deutsche Germanistenverband rückt das vielschichtige
Thema Zeit in den Mittelpunkt seiner diesjährigen Fachtagung. Die Germanistinnen,
Germanisten, Deutschlehrerinnen und -lehrer nähern sich der Zeit aus verschiedenen
Perspektiven: Wie wird Zeit aus dem Blickwinkel der Grammatik- und Erzählforschung
sprachlich dargestellt? Wie wirken sich die Konsequenzen fehlender Zeit im
Deutschunterricht in bildungspolitischer Perspektive aus? Wie entwerfen literarische
Utopien und Untergangsszenarien Zukunft und: Stoßen sie womöglich auch reale
Veränderungsprozesse in der Zeit an?“
http://www.germanistentag2019.de/pages/programm/thematik.html
<http://www.germanistentag2019.de/pages/programm/thematik.html>
Es grüßt,
Ingo