Entschuldige bitte, dass ich auf deine mail nicht auch noch eingehe,
Karl, aber du hast ja mehr kommentiert als kritisiert und einen
Kommentar zum Kommentar brauchen wir ja nicht. Ihr schreibt alle viel
schneller als ich.
Claus
Am 05.10.2022 um 14:25 schrieb Karl Janssen über PhilWeb:
Am 04.10.2022 um 19:51 schrieb Claus Zimmermann
über PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Dass der Wahrnehmungsapparat die Wahrnehmung beeinflusst ist eine
Erfahrungstatsache, die ja nicht ernsthaft bestritten werden kann.
Und deshalb können wir nichts von der "wirklichen Wirklichkeit" wissen?
Sie wäre danach das, was am Anfang des Verarbeitungsprozesses steht,
also möglicherweise gar nichts wie bei Träumen oder Halluzinationen.
Das erinnert etwas an Kants "Ding an sich", nur dass es dabei nicht
um Erfahrungszusammenhänge geht, sondern um Strukturen des Erlebens
und wohl auch Denkens, die wir nicht überspringen können. (Wir können
z.B. nicht in mehr oder weniger als drei Raumdimensionen träumen,
jeder nicht geträumte physische Gegenstand ist dreidimensional, das
wissen wir schon vorher und ist deshalb nicht Inhalt, sondern Form
der Erfahrung.)
Unterschiedliche „Strukturen des Erlebens und wohl auch Denkens, die
wir nicht überspringen können“: Das ist die eigentlich zentrale
Aussage zur Begrifflichkeit von Wahrheit resp. Wirklichkeit.
Wirklichkeit zu erkennten, ist für mein Teil entscheidender als
Aussagen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts zu bewerten, unbenommen
selbstverständlich von Wahrheit im Sinne einer „Wahr/Falsch-Aussage
und seiner essentiellen Bedeutung z.B. in der technischen
Informationsverarbeitung oder eben auch Wahrheit als grundlegendes
Element für ein auf Vertrauen bauendes menschliches Miteinander.
Die Vorstellung von Wirklichkeit resp. zu Wahrheit, bezogen auf die
gegenständliche Lebenswelt versus ideell lebensweltlicher
Zusammenhänge und deren Implikationen. Letztere bergen vornehmlich das
Problem jeweils subjektiver Wahrnehmung, als genau der von Dir, Claus,
angeführten divergenten Strukturen von Erlebens- und Denkmustern, die
dann nahezu unausweichlich zur Ausbildung unterschiedlicher Inferenzen
sowie darauf bezogener Aussagen führt.
S. Hawking hat dieses Phänomen mit seinem berühmten
„Goldfisch-im-Kugelglas-Beispiel“ aufgezeigt und daraus seine These
als „model-dependent realism“ abgeleitet. Gemäß diesem
„modellabhängigen Realismus“ ist es sinnlos zu fragen, ob ein
(Denk-)Modell wirklich der Wirklichkeit entspricht, also real ist,
sondern lediglich, ob es mit der Beobachtung übereinstimmt.
Am Beispiel des Goldfischs im Kugelglas wird deutlich, dass dieser
Fisch sein Umfeld alleine deshalb schon anders wahrnimmt, weil es sich
ihm durch die Glaskrümmung anders als einem von außen darauf sehenden
Beobachter(auch wenn es ebenso ein Fisch wäre) darstellt; dennoch
haben beide Wahrnehmungenvon Realität die gleiche Gültigkeit, d.h. sie
entsprechen aus ihrer jeweiligen Sicht der Wahrheit.
Wirklichkeit im Alltagsverständnis der Menschen entspricht dem, was
augenscheinlich - somit als tatsächlich angenommen - existiert. Das
entspricht dem klassischen Realismus, demnach die wahrgenommene
Gegenständlichkeit und deren spezifische Eigentümlichkeit (etwa eine
genetisch festgelegte Farbgebung) eben diesem Wesen entsprechend
aufscheint und als solches selbstredend jeweils subjektiv rezipiert wird.
Der im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch üblicheAusdruck
benenntdiesen naiven Realismus (also dieunmittelbar bedenkenlose
Wahrnehmung des Lebensumfelds) als„Common-Sense-Realism“; damit wird
gewissermaßen die jeweils subjektive Wahrnehmung sowiederen
Interpretationvon angenommener Realität „vergemeinschaftet“. Mit
dieser ArtObjektivierung kommt man der„wirklichenWirklichkeit“ resp.
den damit verbundenen Aussagennäher, als mit der Bewertung von
Einzelaussagen.
Das entspricht dem Profilder zuletzt von mir hier benannten
Kohärenztheorie, wonacheine Aussage (die eben auf
subjektiv-rezipierende Wahrnehmung basiert) nur dann wahr ist, resp.
der wirklichen Wirklichkeit nahekommt, wenn sie mit der Gesamtheit
diesbezüglicher Aussagen übereinstimmt.
Ich denke schon, dass man mit hinreichend pragmatischem Herangehen an
Lebenswirklichkeit eine brauchbare Methode zum Umgang mit dem
Wahrheitsbegriff (Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Ethik), vor allem aber
einen lebenspraktischen Zugang zur gemeinschaftlich wahrgenommenen
Wirklichkeit eines jeweiligenLebensumfelds entwickeln kann. Unter
diesem Gesichtspunkt verlieren sich die Implikationen hitziger Dispute
zu allen möglichen Theorien und Thesen, wie etwa dem radikalen
Konstruktivismus.
Davon unbenommen bleiben jedoch philosophische Betrachtungen, was
wirkliche Wirklichkeit bedeutet:siekann eigentlich nur Inbegriff des
Ewigen, Unveränderlichen, somit das absolut optimierte EINE als
kosmisches Grundprinzip sein.
Nichts anderes drückt sich in Platons Ideen aus.
Bester Gruß! - Karl
PS: aktuell zur geopolitischen Situation: Wahrheit und Lüge; Wer
bewusst lügt, legt mit jeder Lüge einen weiteren Fallstrick auf ein
anwachsendes „Lügengewebe“, in dem er sich kurz oder lang selbst
verfängt. Hier braucht es wahrlich kein Gebot des Dekalogs, um den
Lebensvorteil von Wahrheit zu erkennen und in dementsprechendem
Handeln umzusetzen.
_______________________________________________
PhilWeb Mailingliste --philweb(a)lists.philo.at
Zur Abmeldung von dieser Mailingliste senden Sie eine Nachricht
anphilweb-leave(a)lists.philo.at