Am 23.07.2023 um 11:55 schrieb Rat Frag über PhilWeb
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Am Mi., 19. Juli 2023 um 11:16 Uhr schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb
zur Erweiterung Deiner Kenntnis hatte ich doch
auf Friederike Schmid von der Uni Mainz verwiesen, die die Kritik am Zauberwort Dekohärenz
natürlich
durch Verweise auf einschlägige Untersuchungen belegt. Auf physikalische Details können
wir hier natürlich nicht eingehen, aber Ignoranz bildet nicht,
ist aber natürlich durch andere Prioritätensetzungen entschuldbar. Nur so viel:
Anwendungsanpassungen einer Theorie taugen nicht zu
ihrer Grundlagenklärung. Leider ist unser Leben zu kurz, um die Welt hinrechend weit
verstehen zu können. Und was soll Einstein einmal gesagt
haben? „Es kommt nicht darauf an, diese Welt zu verstehen, sondern sich in ihr
zurechtzufinden.“
Kannst du auf das Argument von Frau Schmid näher eingehen?
Hi RF,
hinsichtlich der Unzulänglichkeiten des Dekohärenz-Verfahrens verweist Schmid auf:
Ph. Blanchard, D. Giulini, E. Joos, C. Kiefer und I.-O. Stamatescu (hrsg.),
Decoherence: Theoretical, Experimental and Conceptual Problems,
Springer-Verlag Berlin, Heidelberg (2000).
D. Giulini, E. Joos, C. Kiefer, J. Kupsch, I.-O. Stamatescu und H. D. Zeh (hrsg.),
Decoherence and the Appearence of a Classical World in Quantum Theory,
Springer-Verlag Berlin, Heidelberg (1996).
Die Bücher sind aber nur verständlich, wenn Du mindestens ihr Vorlesungsskript
durchgearbeitet hast. Darin favorisiert sie gegenüber der individuellen die statistische
Deutung. Wobei das Dekohärenz-Verfahren nur den Aspekt des Quant.-Klass.-Übergangs der
Kopenhagener Deutung behandelt. Hinsichtlich der problematischen Dekohärenz frei
zugänglich sind bspw. der Mythologie-Verdacht in der Kopenhagener Deutung
Don Howard: Who Invented the "Copenhagen Interpretation"? A Study in Mythology
und eine Ergänzung der Dekohärenz durch die Vakuum-Fluktuationen:
Mani L. Bhaumik: Can Decoherence Solve the Measurement Problem?
Ich frage mich, warum Einstein nicht selbst eine statistische Variante der
Interpretationen ausgearbeitet hatte. Die statistischen Interpretationen von Dürr, Tschudi
und Klein erfolgten ja erst rund ein Jahrhundert später (wobei es natürlich einige frühere
Abweichler gab). Vermutlich hatte Einstein die Quantentheorie als in seinem Sinne
konstruktive Theorie nicht ernst genommen, da es sich um keine Prinziptheorie handelte.
Gegenüber der einheitlich stat.-mech. Darstellung ist die Kopenhagener Deutung bloßes
Stückwerk (Messproblem, Kollaps-Annahme, Quant.-Klass.-Abgrenzung, Individualität,
Dualität, Komplementarität).
Auch ist es mir nach wie vor unklar, wieso Bohr und Heisenberg von der statistischen
Auffassung Plancks und Einsteins abwichen und sich auf ad-hoc-Beschreibungen kaprizierten,
obwohl schon Schrödinger die formale Äquivalenz zwischen algebraischer und analytischer
Darstellung beweisen konnte. Individuen sind nur speziell erfassbar, so dass es
statistischer Gesamtheiten bedarf, sollen sie allgemeiner charakterisiert werden. Und
warum soll es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Quanten- und Klassikwelt geben?
Schließlich hatte bereits Boltzmann in seiner statistischen Mechanik diskrete
Einergieniveaus angenommen. Dabei fällt mir natürlich der Vergleich von
individuell/statistisch mit reversibel/irreversibel ein. Mit dem Problem, wie aus
individuell-reversiblen Vorgängen statistisch-irreversible hervorgehen können, hatte sich
Boltzmann ebenfalls herumgeschlagen, ohne gleich wie Bohr eine neue Physik angenommen zu
haben. Das Irreversibilitätsproblem ist jedenfalls ähnlich wie das Individualitätsproblem
durch Erweiterung auf offene Systeme zu lösen versucht worden. Für mich gibt es neben den
Mrd. Innenwelten nur eine Außenwelt, die mathematisch stochastisch und physikalisch
stat.-mech. beschreibbar ist.
IT