Determinismus und Voluntarismus unterscheiden sich in der Antwort auf die Frage, ob der
Delinquent auch anders hätte handeln können. Beide Antworten klingen wie normale
Behauptungen, unterscheiden sich von ihnen aber dadurch, daß nicht klar ist, was als
Beweis oder Widerlegung gelten würde. Natürlich bestreitet der Voluntarist nicht Tatsachen
der Physiologie, Erziehungseinflüsse, sonstige Umgebungseinflüsse und der Determinist
nicht, daß der Delinquent sich seine Gedanken macht. Sie sind nur nicht einig darüber, ob
er auch anders hätte denken und handeln können. Und dafür lässt keiner irgendeinen Beweis
der Gegenposition oder irgendeine Widerlegung der eigenen gelten. D.h die Subsumtion
scheitert nicht an der praktischen Durchführung. Sondern daran, daß man nicht weiß, was zu
beweisen ist? Aber das hat man doch gesagt. Offenbar doch nicht, denn sonst müsste man
wissen, wann der Beweis zumindest theoretisch erbracht und wie er zu widerlegen wäre.
Nehmen wir den Satz "ich kann...". Das sind leere Worte, wenn ich nicht weiß,
was "..." bedeutet. Ich brauche eine Beschreibung oder Demonstration. Der Beweis
besteht dann darin, daß ich ... vorführe. Wenn ein Beweis aber nicht nur praktisch,
sondern prinzipiell nicht möglich sein sollte, sollte das nicht an der fehlenden Erklärung
von "..." liegen?
Wenn man dagegen unsere Freiheit darin sehen würde, daß wir Pläne machen und unser eigenes
Drehbuch schreiben können, würde sich der Widerspruch des jungen Manns auflösen. In den
alten Schriften steht, daß man das tun soll, aber auch, daß daraus meist sowieso nichts
wird und daß Spontaneität auch wichtig ist.
Claus
Am 30. Dez. 2019, 22:32, um 22:32, Rat Frag via Philweb <philweb(a)lists.philo.at>
schrieb:
[Philweb]
Hallo Liste,
ich ergreife wieder das Wort, um das Thema noch einmal von einer
anderen Seite aus zu behandeln.
Um bei diesem Thema voranzukommen, so glaube ich, ist es hilfreich,
wenn man noch mal die beiden "Eckpunkte" getrennt anschneidet.
1. Warum "Bewusstseinsspaltung"?
Ich schrieb ja zu beginn der "Dichterische Bewusstseinsspaltungen"
folgendes:
"//Ein junger Mann sitzt [..] vielleicht in seinem Zimmer, bis spät in
die Nacht und stellt sich selbst solche Fragen wie "soll ich studieren
oder ein Handwerk lernen?", "Soll ich wirklich 'Philosoph' werden oder
wäre es nicht vielfach klüger, etwas anderes zu werden?" oder "Ist die
Art und Weise, in der sich unsere Gesellschaft entwickelt gut? Was
bedeutet die Antwort auf die Frage für mich, werde ich nicht sowieso
mitmachen?"
In dem Moment macht auch Determinismus keinen Sinn//"
Ich meine, dieser Teil des Satzes bringt nach wie vor eine Wahrheit
zum Ausdruck. Wenn jemand hineinkommen würde und diesen jungen
Menschen z. B. Statistiken darüber vorlegen würde, wie andere junge
Menschen in seiner Situation, mit seinem Hintergrund usw.usf.
entschieden haben, würde es den jungen Mann keinen Schritt
weiterhelfen. Eine dritte Person könnte vielleicht die Aussage machen
"wenn 99% der Menschen mit den Eigenschaften des jungen Mannes die
Entscheidung treffen, irgendwas zu studieren, dann ist die
Wahrscheinlichkeit auch sehr hoch, dass dieser individuelle junge Mann
tatsächlich studiert", aber das hilft den jungen Mann wenig weiter.
Mal ehrlich, wer von uns würde sich durch so eine Begründung schon
motiviert fühlen? Das ist vielleicht eine rationale Vorhersage des
Verhaltens, aber keine rationale Rechtfertigung.
Ich denke hier berechtigt zu sein eine Linie zu ziehen bis vor Gericht.
Vor Gericht steht ein Verbrecher. Man kann jetzt lückenlos nachweisen,
dass Menschen z. B. aufgrund schlechter Erziehung, schlechter
Wohngegend, neurologisch-psychologischen Eigenschaften oder andere
Kriterien häufiger Deliquent werden. Man kann dann sagen, "er kann
nichts dafür, er ist Opfer der Umstände oder der Gesellschaft, die das
zugelassen hat", aber negiert das seine individuelle Schuld, ein
Verbrechen begangen zu haben?
Der Punkt ist, dass wir mildernde Umstände geltend machen würden, wenn
z. B. irgendwelche hormonellen Störungen vorliegen. Dann kann es sein,
dass die Person wirklich nicht mehr als Person handeln konnte wie sie
wollte und wir hier quasi nur die Aktion seines Körpers haben.
Jetzt könnte ein Determinist kommen und betonen, dass jedes Verhalten
immer eine neurologische Ursache haben muss, da der menschliche Geist
eine Funktion des Gehirns (und vielleicht anderer Teile des
Nervensystems, eventuell des Immunsystems) ist. Wer diese Annahme in
Frage stellt, der müsse spirituelle Substanzen, Geister oder
dergleichen annehmen. Das sei aber doch noch schwerer zu rechtfertigen
als die Existenz von Materie und Energie.
Das scheint die Herausforderung zu sein, die ich durch die
"dichterische Bewusstseinsspaltung" lösen wollte. Der "Dichter" kann
sich nicht selbst als eine Art Automat betrachten, er muss
zwangsläufig als handelndes Subjekt auftreten.
Und das "Dichterbewusstsein" ist deshalb gespalten, weil es einerseits
anerkennt, dass es ein "natürlicher", biochemisch/bioleketrischer
Prozess ist, aber andererseits an Schuld und Verantwortung festhält.
Die Spaltung würde augenblicklich aufhören - zumindest in Dichtung,
nicht unbedingt in Wahrheit - , sobald entweder die Perspektive als
handelndes, erkennendes Subjekt aufgegeben wird oder wenn der
Materialismus-Determinismus negiert wird. Abstrakt, "from a logical
point of view" stehen beide Optionen natürlich zur Verfügung, doch
nicht für den "Dichter", weil er ja Subjekt bleibt und die Welt ihn
eben als materielle Welt erscheint.
Das mit dem gespaltenen Bewusstsein erstreckt sich aber auch auf
Richter, Mathematiker oder Piloten. Auch hier haben wir es mit
Menschen zu tun, die eine Entscheidung treffen und gleichzeitig mit
Leuten, deren Entscheidung man zumindest prinzipiell voraussagen
könnte. Bei den Richtern ist das inzwischen schon Realität geworden
und es stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft damit umgeht.
2. Die zweite Frage ist mein Vorschlag zur Auflösung dieser Spaltung:
Die teilweise Aufgabe des Satzes vom Widerspruch.
Dieser Teil hat wohl am Meisten Widerspruch angeregt.
Ich muss an dieser Stelle noch einmal voraus schicken, die Aussage "Es
gibt Sätze, die gleichzeitig beides sind, wahr und falsch" impliziert
nicht, dass alle Sätze zugleich wahr und falsch sind. Das ist ein
Fehlschluss, eine Unterstellung. In Wahrheit wird auch jemand, der
diesen Satz zustimmt, in 90% der Fälle ein "Entweder Oder" akzeptieren
können. Genauso wie der Intuitionist in viele Fällen
Widerspruchsbeweise akzeptiert.
Widerspricht die These damit den Gesunden Menschenverstand? Ist sie
pauschal unsinnig? Ich glaube nicht.
Das Problem ist, soweit meine Einschätzung, dass wir Regeln brauchen,
wann ein Widerspruch okay und zu akzeptieren und wann er tatsächlich
ein Problem ist. Die Logiken, die diese Regeln aufstellen und
enthalten, scheinen mir aber allgemein bei weitem weniger einfach
einsichtig und handhabbar zu sein als die klassische Logik.
Es besteht also doch eine hohe Motivation, eine klassische Lösung zu
suchen.
Ich bitte die Diskussionsteilnehmer nur, sich die bloße Möglichkeit
durch den Kopf gehen zu lassen.
P.S. Die Überschriften "Dichterische Bewusstseinsspaltungen" und
"Plaudereien am Rande des gespaltenen Dichterbewusstseins" spiegeln in
erster Linie die Vorliebe des Autors "Ratfrag" wider. Ursprünglich
bezog der Dichter auf den von Ingo zitierten Gerhard Tersteegen.
Bewusstsein und dessen Spaltung ist thematisch gewählt und Dichter
passt dazu sehr gut, auch wenn Tersteegens Gedicht nach meinen
Dafürhalten weder eine Spaltung ausdrückt, noch ein direkter Bezug
besteht. Philosophische Bewusstseinsspaltung und dergleichen hätte
meines Erachtens falsche Assoziationen geweckt. Andere Begriffe einen
noch unerwünschteren Beigeschmack.
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