Am Sa., 23. Okt. 2021 um 19:30 Uhr schrieb Claus Zimmermann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Ein ehrlicher Mensch braucht dafür keinen Grund. Es
widerstrebt ihm einfach.
Das könnte man so sehen.
Die nietzschianische Perspektive ist natürlich immer die des
selbstgewählten "Entschleiherers" und "Entlarvers". Insofern ist er
ein Vorläufer der Tiefenpsychologie.
Richtig erscheint mir, niemanden dafür zu verurteilen,
wie er auf die
Welt kommt (falls man nicht an Wiedergeburt glaubt), sondern nur dafür,
was er daraus macht.
Jetzt könnte man argumentieren, dass jemand mit einem 5x gesteigerten
Aggressionstrieb, der aber aus intellektueller Einsicht Pazifist ist,
eventuell viel tugendhafter und löblicher ist als derjenige, der
einfach keine psychische Kraft zur Aggression hat.
Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit stark gesteigerten
Aggressionstrieb dagegen seine Mitmenschen in Kämpfe verwickelt,
dürfte indessen größer sein.
Das war ja u. a. das, worum es mir in den anderen Thread gibt.
Wiedergeburt ist ein anderes Thema. Sofern man sich die Wiedergeburt
in dieser Welt vorstellt und nicht in einem Multiversum, dürfte das
aber empirisch widerlegbar sein.
Man kann m.E. sagen, daß die Lüge gleichzeitig mit der
Wahrheit in die
Welt kommt. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Nicht zwangsläufig.
Körpersprache, andere Marker oder Hormone lügen ja in dem Sinne nicht
und dennoch darf man davon ausgehen, dass in der Evolution das extrem
erfolgreiche Geschäft der Täuschung betrieben wird. Ganz absonders in
der 2. Selektion, der Sexuellen.
Es gibt noch eine andere Strategie im Umgang mit Lüge
und Wahrheit, die
gerade ziemlich in Mode ist. Man lügt, wird ertappt und wiederholt die
Lüge mit fester Stimme. Dann teilt sich das Publikum in zwei Lager. Das
eine ist angeekelt. Das andere ist fasziniert und hängt an den Lippen
des Meisters.
Demnächst wird es ein neues hoch soziales Medium namens Truth Social geben.
Über die Strategie mit der Vollfrontal-Lüge habe ich auch schon mal
nachgedacht. Die ist aber älter. Angeblich soll schon Nixion
Chruschtschow auf einer Expo zur Rede gestellt und wahrheitswidrig
behauptet haben, das damals ausgestellte "Wohnzimmer der Zukunft" sei
die Behausung des durchschnittlichen Amerikaners.
(Nicht, dass die Sowjetunion zu dem Zeitpunkt weniger gelogen hätte.)
Ich würde als Gedankenspiel eine Frage einwerfen: Wo ist der
Unterschied zum platonischen Mythos oder zu den ersten Fabeln?
Platon wird klar gewesen sein, dass es keine Kugelmenschen gab oder
die Seele nicht analog zu einer "Puppe" ist. Er hat sich die Mythe
selbst ausgedacht. Zumindest ist das mein Stand.
Bei Platon liegt es nahe, diese Mythen nur als Metaphern zu sehen, die
sich an ein antikes Publikum gerichtet haben, die vermutlich den
Umgang mit abstrakten Konzepten wie philosophischen Kategorien,
metaphysischen Ideen usw. nicht gewohnt waren. Wobei wir eben nicht
genug von den antiken Publikum wissen. Vielleicht war der Mythos auch
eher das Zeichen einer rein ästhetischen Vorliebe.
Die Frage ist natürlich, welche metaphorischen Wahrheiten unsere
Politiker verbreiten, wenn sie genau das behaupten, dass ihnen grade
in den Kram passt.
Wir streifen hier in jedem Fall einen weiteren Beriech der Lüge, den
ich auch ansprechen aber bei meinem Text oben noch ausgelassen habe:
Der "I want to believe"-Trieb des Menschen. Es scheint eben Dinge zu
geben, die die Menschen immer wieder gern glauben wollen, während
andere Dinge nicht dazu zählen. Auch hier haben die Tiefenpsychologen
meines Wissens eine ausgearbeitete Theorie abgeliefert. Paradoxerweise
zählt man heute die Tiefenpsychologie zu den Dingen, die wir glauben
wollen.
Irgendjemand hat in diesem Zusammenhang mal den Begriff der "sozialen
Lyrik" eingeworfen.
Das setzt allerdings voraus, dass man unterstellt, den Beteiligen sei
die Irrealität ihrer Geschichten bewusst und sie versuchen damit nur
irgendwas metaphorisches zu transportieren. Nach meiner
"Feldforschung", die aber nicht anhand von wissenschaftlichen
Standards erfolgt ist, ist das aber nicht so.
Die Anhänger glauben wirklich und wahrhaftig daran, was immer wieder
behauptet wird. Die große Masse scheint sich dabei nicht vertieft mit
dem Für und Wieder zu befassen und lässt sich einseitig
desinformieren. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir manche
Debatten ebenfalls an der Peripherie vorbeigehen. Ich beobachte im
Wesentlichen nur, welche Rolle dies im Weltbild der Menschen einnimmt.
Es gehört wahrscheinlich zum "Gesunden Menschenverstand" dazu, dass
man für gewisse Dinge nicht nach den Beweisen fragt, sondern sie
akzeptiert, wie Wittgenstein schon schrieb. Den Mechanismus kann man
sich dann zu nutze machen.
Was das metaphorische Transportieren angeht: Es wäre im Bereich der
Politik sehr gut möglich, dass hohe Politiker über Informationen
verfügen, die sie in der Form nicht publik machen können oder dürfen.
Es ist natürlich lächerlich, hier auf Besuch der intergalaktischen
Gemeinschaft zu hoffen, die uns mit den UFOs hochbeamen. Das ist
wieder Wunschdenken oder Angstdenken. (Sowas ähnliches ist im
Zusammenhang mit den Pentagon-Videos übrigens wirklich durchs Netz
gegeistert.)
Vergleichbare Fälle gibt es aber auch in der soliden Polizeiarbeit:
Man hört (illegal!) das Telefon des Verdächtigen ab und darf in Folge
dessen nicht zugeben, dass man seine Informationen von daher hat. Man
muss also wider besseren Wissens naiv tun oder man lügt und hält etwas
zurück.
Vor 5 Jahren habe ich das Problem, natürlich abstrahiert, unter den
Titel "Im Namen der Wahrheit lügen?" aufgegriffen und schon damals hat
mich das an Schopenhauers Abhandlung über die Redekunst erinnert.
Und genau wie damals ergibt sich ein Problem:
"Indem A wesentliche Informationen vor B verbirgt, lenkt er seine
Schlussfolgerungen. Das bedeutet, er sieht B in dem Augenblick nicht
'auf Augenhöhe', als selbstdenkendes, urteilsfähiges Subjekt, sondern
eher als jemand, 'für den mitgedacht werden muss', damit er nicht auf
falsche Gedanken kommt.
Kurzum, so könnte man es salbungsvoll ausdrücken, widerspricht A damit
Bs Würde."
Mit dieser Ausführung bekomme ich für mich persönlich die Situation in
den Griff. Im selben Augenblick, indem ich zu den Verdacht komme, dass
der hochrangige Politiker lügt und eigentlich ganz andere Gründe für
seine Ansicht hat als er offen sagen kann, habe ich meine Unschuld
schon verloren.
Wenn ich dann aufgrund der falschen Gründe handle als ob sie wahr
wären, dann lasse ich mich instrumentalisieren und gebe meine
Verantwortung an den Politiker, in dem Fall A, ab.
In einer Demokratie muss ich auf einer offenen Debatte bestehen und
als Individuum, das von seiner eigenen Urteilsfähigkeit ausgeht, würde
ich mich nur ungern einen möchtegern-König unterwerfen.
Soweit von mir. Ich hoffe, dass diese informellen Überlegungen nicht
das missfallen von Listenteilnehmern erregen.