Am 05.06.2021 um 12:09 schrieb Ingo Tessmann:
Am 05.06.2021 um 01:04 schrieb Karl Janssen
<janssen.kja(a)online.de
<mailto:janssen.kja@online.de>>:
Bezüglich Deiner frankophilen Äußerungen wollte ich Dich noch fragen,
ob Du Houellebecqs „Unterwerfung“ gelesen hast? Glaubst Du wirklich,
dass die Dinge in Frankreich besser laufen als hier?
Mein Vater war ausdrücklich frankophil; vermutlich auch, weil er
deren Sprache beherrschte und im Krieg an der Westfront sich trotz
der Verbrechen von Nationalsozialisten gut mit Franzosen verstand
(er hatte sich dazu gelegentlich von seiner Einheit abgesetzt (quod
licet Iovi, non licet bovi - dennoch: hätte man ihn dabei erwischt,
würde ich das hier nicht schreiben :-))
Doch haben sie da drüben schon auch ihre spezifischen Tücken, wie
nicht nur ich, sondern manch Deutscher Michel das (vor allem bei
Geschäftskontakten) erleben konnte. Vieles aber an deren Lebensweise
ist mir dennoch sympathisch.
Hi Karl,
ja, Houellebecqs „Unterwerfung“ habe ich gelesen und den Großteil
seiner anderen Romane. Alle haben mir gefallen, besonders natürlich
sein ironischer bis sarkastischer Unterton. Meine Frankophilie bezog
sich aber auf den Gegensatz zum Faschismus in Deutschland seinerzeit.
Dahin hatten sich seinerzeit ja nur noch Italien und Japan entwickelt.
Für die Weimarer Republik fatal waren besonders die Ressentiments
Frankreichs gewesen nach 1918, die wesentlich zur Destabilisierung der
Weimarer Republik beigetragen hatten.
Umgekehrt waren die Ressentiments ja unter den Deutschen besonders
durch Napoleons Großmachtpolitik bestärkt worden.
Ganz klar: jeweils Ursache - Wirkung!
Philipp Hölzing hat 2015 einen laborgerechten
politischen Mesokosmos
verfasst: „Ein Laboratorium der Moderne. Politisches Denken in
Deutschland 1789-1820.“ Seine Thesen: „Dass sich das politische Denken
nach 1789 in Deutschland als Reaktion auf die Französische Revolution
in die drei Strömungen, in Liberalismus, Republikanismus und
Konservatismus, ausdifferenziert, ist die zentrale These der
Untersuchung. Eine zweite These, die der synchronen
Gegenüberstellung der drei Strömungen eine diachrone Perspektive
hinzufügt, besagt, dass sich bei allen drei Strömungen im Zuge der
Koalitionskriege gegen die französischen Revolutionsarmeen und dann
vor allem der napoleonischen Eroberungen ein Wandel von eher
kosmopolitischen Haltungen nach 1789 hin zu eindeutig
nationalistischen nach 1800 verfolgen lässt.“
Zu den Kosmopoliten um 1800 herum zählt Holzing den Liberalen
Humboldt, den Republikaner Kant und den Konservativen Goethe und zu
den Nationalisten den Liberalen Hegel, den Republikaner Fichte und den
Konservativen Stein. Man stelle sich vor, nicht die Nationlalisten,
sondern die Kosmopoliten hätten im 19. Jahrhundert das Rennen gemacht!
Was wäre uns alles erspart geblieben!
Der Philosoph als König - Diese Vorstellung
Platons halte ich
(vermutlich im seltenen Einvernehmen mit Waldemar) für keine gute Idee.
Also könntest Du Dich doch der Sache annehmen und
ein Drehbuch schreiben!
Ein Filmregisseur wird sich dann schon finden.
Oder dieser Weg: ihr beide geht dieses Werk in
Kooperation an!
Naja, die „hier unten" werden selten erhört,
Wer hört denn heute überhaupt noch auf wen, möchte man da fragen! Hat
überhaupt jemals „Oben“ auf °Unten“ gehört und vice versa?
„Unten" (wer auch immer "unten" ist), so lehrt das Leben, war und ist
immer hörig, hat wohl immer hörig zu sein.
Daran ändern auch Daths marxistische Träume nichts; dieses Ideal (oder
doch eher diese Ideologie) scheitert jeweils auf fatale Weise an der
Realität des Lebens, wie dementsprechende „Experimente“ das weltweit
bewiesen haben und immer noch zeigen:
Sozialismus taugt nicht, einerlei ob rot, braun oder sonstig gefärbt
aber ich komme einfach nicht mehr hinterher mit dem
erlesen und
bedenken der Welt.
Nun möchte man ebenso fragen, warum Du angesichts Deines enormen Fundus
an speziellem wie allgemeinen Wissen überhaupt noch lesen willst oder
sollst oder musst!
Ich denke da zurück an eine hier in philweb vor vielen Jahren von
Joachim Landkammer vorgetragene „These“ über ein individuell angelegtes,
ganz spezielles Bild, nachdem wir alle – nahezu unbewusst - beständig
suchen, ohne es letztlich zu finden (es ging damals um Sexualität –
sofern ich das richtig erinnere).
Joachims Ausdeutung hat mir gezeigt, dass man (unabhängig vom
betrachteten Themengebiet) immer auf der Suche nach einem „Bild“, auf
ein sehr spezifisch (quasi archaisch eingeprägtes) auf sich selbst
gemünztes Muster ist; hat das etwa mit Selbstähnlichkeit zu tun, worauf
Waldemar stets abhebt? Ich denke schon, dass dies zutrifft:
Selbstähnlichkeit entspricht einer Ordnungsstruktur komplexer Systeme,
als welches der Mensch in seiner körperlichen wie geistigen Konstitution
definitiv zu sehen ist.
Selbstähnlichkeit als ordnendes Prinzip könnte demnach dafür
verantwortlich sein, dass man immer wieder auf‘s Neue versucht, Ordnung
in sein angesammeltes Wissen, in sein Denken, in seine Triebhaftigkeit
(im Sinne intrinsisch angelegter Antriebe) zu bringen, d.h. der ebenso
permanent sich vollziehenden Entropie (und sei es auch nur die außerhalb
von uns stattfindende, also der im „Chaos“ versinkende Schreibtisch oder
das exponentiell anwachsende Unkraut im Garten) entgegen zu stemmen.
Das ist das Schicksal eines Sisyphos! Dieses scheint Dir wie auch mir
(und sicher auch weiteren in unserer Runde) beschieden zu sein.
Nach der vergleichenden Betrachtung der Werke Albert
Einsteins und
Thomas Manns wollte ich weitere Physik-Literatur-Paarungen
gegenüberstellen: Louis De Broglie und Marcel Proust, Paul Dirac und
Virginia Woolf, Richard Feynman und John Dos Passos, Erwin Schrödinger
und Robert Musil — und natürlich Werner Heisenberg und Alfred Döblin,
nunmehr ergänzt durch Sohn Wolfgang. Nichts davon ist über das
Entwurfsstadium hinaus gediehen.
Alles wie im richtigen Leben und dieses ist ein einziges Fragment von
der Wiege bis zum Grab!
Wie Dietmar Dath Mathematik und Literatur zusammenbringt, geht bspw.
aus dem folgenden Zitat seines SF-Romans „Venus siegt“ hervor: „Räume
kollabieren jetzt in Räume, wenn sie nicht erweitert werden — das ist
die Falle.
Nun, Räume kollabieren letztlich zwangsweise, fallen zusammen in
„schwarze Löcher“ und doch bleibt die Information (das Wissen!) über
alles jemals darin Geschehene erhalten, codiert auf der jenseits des
Ereignishorizonts gelegenen Grenzfläche (holographisches Prinzip nach
Maldacena, Smolin, 't Hooft,Susskind u.a.).
Kollabierende Räume sind damit keine Falle gänzlichen Verlorenseins
(doomed forever), sondern lediglich die Falle für alles materiell in
sich Zusammengefallene, das Geistige verbleibt als Teil unvergänglich
kosmischer Intelligenz.
Räume kollabieren, neue Räume entstehen, erweitern sich; wachsen
(inflationieren) zu Horizonten angrenzender Überräume und diese
schließlich in einen finalen Hyperraum, ähnlich vielleicht wie
Matroschka-Püppchen sich in ihre Überpuppe fügen.
Das ist eine mir eingängige Vorstellung von immerwährendem Werden und
Vergehen.
Die Lilaws wollten horten, wollten bündeln und
besitzen und
beherrschen helfen — für sie waren alles nur Mengen, Säcke voller
Schätze.
„Jäger und Sammler“ also, wie sie nach wie vor die Gesellschaften dieser
Welt bilden und tatsächlich in eine fatal sich auswirkende Falle laufen:
Die erforderliche Raumfläche zur Deckung des Stoffwechsels einer
„Jäger-Sammler-Gesellschaft“ nimmt nichtlinear im Verhältnis zur Zunahme
ihrer Population ab (n. Hamilton).
Ob hier das Zurück zu Kamalakara oder gar bis zur Ursuppe Abhilfe zu
schaffen vermag?
Vom ständigen Wechsel zwischen „Ursuppe“ und konkrekten
Lebensräumen/Universen hatte ich geschrieben. Wie „Topos“ die Welt
liest, scheint mir U-Topisch, ähnlich wie die idealistische Lesart von
Marxisten/Kommunisten.
Der literarisch kunstvoll angelegte Duktus dieser Idealvorstellung ist
hingegen beachtens- und lesenswert:
Aber Topos liest die Welt anders: Wir ersetzen Mengen
durch
topologische Räume und gehen damit zurück bis zu Kamalakara und noch
weiter — bis in die Ursuppe der Homotopietheorie, bis in die
topologischen Aspekte der algebraischen Geometrie. Wir denken in
Unendlich-Kategorien, in Unendlich-Topoi, und unsere Garben pflügen
die Erde um, aus denen die Lilaws gewachsen sind.“
Garben werden mathematisch definiert in der Theorie der Faserbündel
und für den Bauern handelt es sich schlicht um Bündel aus
Getreidehalmen. In der Physik ist ja die Feldmetapher von der
Landwirtschaft inspiriert worden. Und Dath setzt in der SF den Weg
fort, wie er intuitiv von Faraday und mathematisch von Maxwell
begonnen wurde. Die Mathematik schafft Möglichkeiten, die von der
Physik auf Wirklichkeiten beschränkt werden, aber in der SF kann man
die unendlichen mathematischen Räume natürlich als Behausungen für
kosmische Intelligenzen inszenieren. Dabei verhehlt Dath nicht seine
marxistische Haltung, wenn er mit dem Übergang von den Mengen zu den
Kategorien und Topoi den hortenden Underdogs die Horizonte erweitert.
Jenseits des Kapitalismus muss das Eigentum nicht mehr die
entscheidende Rolle im Zusammenleben der Intelligenzen spielen.
Aber auch diese Deine zusammenfassende Darstellung ist beachtenswert,
trifft sie doch in Vielem den Kern dessen, was zur Veränderung dieser
„Jäger-Sammler-Gesellschaft“ führen könnte.
Mir ist Kapitalismus, wie er sich weltweit in der hässlichen Fratze der
„Money-Maker“ und in der Gier sowie im Besitzdenken vieler (aber doch
längst nicht aller!) Menschen ausdrückt, zutiefst zuwider, ebenso aber
kann ich realitätsfremden Ideologien nichts abgewinnen, deren
Protagonisten und Funktionäre größtenteils nicht anders handeln, als die
Erstgenannten.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl