Am 20.08.2023 um 10:01 schrieb Rat Frag
<rat96frag(a)gmail.com>om>:
Hallo liebe Liste,
ich wurde durch Zufall aufmerksam auf folgenden Link:
https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/februar/libertaer-und-autoritaer
Was denkt ihr darüber?
Mit freundlichen Gruß
Der, wie immer, Ratlose.
Vorab der Hinweis, dass mit den Wartungsarbeiten am Listserver der phil. Fakultät univie
ein zwischenzeitlicher Ausfall der philweb-Liste verbunden war. Diese Arbeiten sind
abgeschlossen und somit sollte auch diese Liste wieder funktionieren. Ohne Wartungs- und
Betreuungsarbeiten an den EDV-Systemen ist ein gesicherter Betrieb der darauf laufenden
programmgestützten Foren, i.w. der Mail-Listen nicht möglich, daher mein Dank dafür an das
EDV-Team der Fakultät und darüber hinaus generell für die Bereitstellung und techn.
Betreuung dieser Plattform!
So wird meine Antwort auf Ratfrags letzten Beitrag auch ein Test für das Funktionieren der
Mailverteilung in philweb. Es wäre durchaus hilfreich, wenn einige der an dieser Liste
Teilnehmenden eine kurze Rückmeldung hier geben würden.
Nun meine Antwort Ratfrag auf Deine Frage zum benannten Beitrag
https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/februar/libertaer-und-autoritaer
Im dort benannten Essay von Carolin Amlinger und Oliver Nachtway, der sich auf deren Buch
„Gekränkte Freiheit, Aspekte des libertären Autoritarismus“ bezieht, werden m.E.
gesellschaftliche Entwicklungen unseres postmodernen Zeitalters beschrieben, wie sie sich
allgemein als bisweilen unerträgliche Egozentrik, also einer individuell übersteigerten
ICH-Präsenz auf Kosten der Allgemeinheit allenorts zeigt. Anders ausgedrückt: Der Bürger
sieht sich als König mit all seinen Rechten, Privilegien und Marotten, vor allem dem Recht
auf die eigene Meinung, wie er sich diese aus bisweilen fragwürdigen Quellen bildet.
Diese Attribute kann man natürlich nicht allen Menschen dieser postmodernen Epoche
zuschreiben. Dennoch bestimmt diese Denkrichtung einen wesentlich einflussreichen Teil der
Gesellschaft, da deren Vertreter schließlich auch an den Schaltstellen
gesellschaftspolitischer Machtzentren (Medien, Politik, Bildungswesen etc.) diese
bisweilen bedenkliche gesellschaftspolitisch-wissenschaftliche Richtung im Sinne eines
sozialisierend wirksamen „Framings“ vorgeben.
Paradox erscheint dabei, dass sich derartige Vorgaben zumeist geradewegs gegen
institutionelle Bevormundung, gegen Auswüchse der (Post-)Moderne und deren Methoden
richten, was dem sog. Tocqueville-Paradoxon zu entsprechen scheint.
Das lässt auch an Horkeimer-Adornos „Dialektik der Aufklärung“ denken, worüber wir vor
etlichen Jahren hier diskutiert haben. Dabei geht es um deren These, dass mit steigender
Selbstbehauptung (bis hin zum benannten übersteigerten ICH zulasten eines Kollektivs),
neben der überlebenswichtigen Behauptung gegenüber einer im Prinzip ungnädigen Natur
(Albert Schweitzer) eine darüber hinausgehende Beherrschung, resp. institutionalisierte
Herrschaft von Menschen über ihre Mitmenschen gesellschaftlich ausgeprägt hat. Und diese
Herrschaft spielt sich in heutiger Zeit nicht notwendigerweise nach konventionellen
Methoden der Machtausübung, resp. des -erhalts, sondern durch subtile Formen eben des
institutionalisierten libertären Autoritarismus ab.
Aus einer spezifischen Rahmenbedingung, die auf dem von Horkheimer/Adorno als
vernunftsorientiertem Herrschaftscharakter gründet, hat sich somit im Sinne der Dialektik
eine "Rückkehr der bereits aufgeklärten Gesellschaft zur Barbarei in der
Wirklichkeit" eingestellt. Das führte zwangsläufig zu einem Aufschwung der Mythologie
(was sich auf drastische Weise im Dritten Reich verwirklicht hat und aktuell an
faschistoiden Formen von Staats- und Kriegsführung zu sehen ist).
Die Frage erhebt sich, ob diese Entwicklung durch Selbstbesinnung und -kritik verhindert
werden könnte. Darauf aufsetzend ebenso die Frage, ob damit auch der offensichtlich
zunehmenden Entwicklung eines libertären Autoritarismus entgegen gewirkt werden kann, wie
er sich nach dem Prinzip Actio gleich Reactio mittlerweile auf beiden Seiten
gesellschaftlicher Systems bei Regierenden und Regierten auf bisweilen beunruhigende Art
etabliert hat.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl