Hi Karl,
in Verbindung mit den vielen Interpretationen der Quantenmechanik hatten wir vielfach die
Unterscheidung von Formalismus und Interpretation thematisiert. Auf die Einzeller bezogen,
bildet die chemische Reaktionskinetik den Formalismus und die "homeostasis of
cellular properties (e.g., firing rate), or of abstract information-theoretical
properties“, wie bei Romain Brette zu lesen, die Interpretationen. Du hältst die
Interpretation als „Informationsverarbeitung“ für wesentlich, ich aber den Formalismus der
Reaktionskinetik, der hinreicht, um die Bewegungsvielfalt der Einzeller beschreiben zu
können.
IT
Am 15.07.2022 um 03:45 schrieb K. Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Am 13.07.2022 um 12:51 schrieb Ingo Tessmann:
Wissenschaftswettbewerb oder endlose Spintisiererei? Behauptungen zu belegen, ist stets
angezeigt, sowohl alltäglich als auch in philweb. Am 7.7.22 hattest Du geschrieben:
„Nehmen wir ein Paramecium (Gattung der eukaryotischen, einzelligen Ciliaten), das sich in
einer Brackwasserlache auf ein Hindernis zu bewegt. Dort angestoßen, registriert es der
Einzeller und speichert diese Information (wo auch immer) ab, um diese Stelle beim
nächsten Anlauf zu meiden. Auf diese Weise bildet sich ein Bewegungsmuster, das diesem
hirnlosen Wesen zur Koordination seiner künftigen Fortbewegung dient.“
Darauf hatte ich folgende Beobachtung aus einem Lehrbuch zitiert: „Stößt ein Tier auf
ein Hindernis, so schwimmt es zunächst, durch Umkehr des Cilienschlages, ein Stück
zurück, hält an, beschreibt mit dem Vorderende einen kleinen Kreisbogen und schwimmt in
der so gewonnenen neuen Richtung wieder vorwärts.“ Allein wiederholt abgewandelte Hin-
und Herbewegungen reichen also aus, um Hindernisse zu überwinden. Du nimmst demgegenüber
eine „Gedächtnisleistung" zur Bildung von Bewegungsmustern an und sprichst von wo
auch immer abgespeicherter Information. Solange Du keine Belege dafür anführst, bleibt es
Spintisiererei, die Du auch noch beizubehalten gedenkst. Ich halte eine solche leider weit
verbreitete Meinungsmache alltäglich und philosophisch für verfehlt — und frage mich,
warum mich das überhaupt noch was angeht; denn Methodiker und Begriffsgymnastiker werden
schwerlich jemals zusammenkommen.
Also nochmal zu meiner „Spintisiererei“ bezüglich meines Beispiels von
Selbstorganisation-/regulierung.
Zunächst sei gesagt, dass ich das Paramecium mehr oder weniger aus dem Stehgreif (mich an
eine Passage aus einem Sachbuch sic! erinnernd) heraus als Beispiel genommen habe, ohne
vorher in ein Lehrbuch gesehen zu haben.
Einige von uns hier werden sich wie ich (mehr oder weniger vage) an den
Biologieunterricht erinnern, wo der Blick durch das Mikroskop auf einen Wassertropfen (aus
dem Pflanzenteich der Schule) die seltsam ruckartigen Bewegungen der Pantoffeltierchen
erkennen ließ. Viel mehr gab es zu dieser Zeit nicht zu erfahren und es hat mich auch
nicht weiter interessiert. Heute sollte/würde ich vielleicht Biologie anstatt Technik
studieren.
Im Zusammenhang mit Selbststeuerung (bezogen auf Mustererkennung/Form/Information) kam
mir dann diese Analogie in den Sinn und vermutlich auch deshalb, weil ich hier ein
anschauliches Beispiel wählen wollte, um nicht noch mehr Komplexität in die von mir
bisweilen (oder sogar üblich) abstrakten Darlegungen einzubringen. Offensichtlich konnte
man dieses Ansinnen nicht erkennen oder eher gesagt: ich vermag es nicht, das so zu
vermitteln. Also bleibt es wohl Spintisiererei.
Keinesfalls habe ich jedoch gesagt, dass ein Paramecium eine „Gedächtnisleistung“ bei
seiner Navigation (also seinem typischen Bewegungsprofil) erbringt! Vielmehr gehe ich von
einer Art Informationsverarbeitung (sensorisches Erfassen der räumlichen Geometrie (also
Form der Umgebung), die selbstredend nicht mit jener hochentwickelter Lebewesen
gleichzusetzen ist. Zudem schrieb ich, dass nicht „Antriebstechnik“ an sich, sondern das
autonome Erstellen eines zielgerichteten Bewegungsprofils (Hindernisumgehung!) als eine
Art Selbststeuerung gesehen werden kann. In diesem Kontext interessant ist die von
Forschern beobachtete Reaktion (z.B. Chemotaxis), dass die Einzeller bei ungünstigen
Umwelteinflüssen (chemische, thermische Reize etc.) mit Orientierungsbewegungen reagieren,
um in günstigere Umgebung zu schwimmen (Chemotaxis).
Im Kern will und wollte ich darauf hinaus, wie diese Grundmuster von Formerkennung und
Informationsbildung/-verarbeitung sich schon in einfachsten Strukturen von Leben zeigen.
Das sollte ich natürlich nicht unbedingt am Beispiel der Biologie (so faszinierend sie
auch ist - aber leider mein blinder Fleck im Wissensspeicher) aufzeigen und daher auch
zusätzlich und als Analogie (im weiteren Sinne) das Saugroboter-Beispiel.
Aber nochmal: Soll man hier grundsätzlich lebensnahe und aber dennoch tiefer greifende
Themen ausschließlich mit dem Anspruch an wissenschaftlich belegte Beiträge diskutieren
müssen oder kann man derartige Themen einfach mal aufgreifen und damit zu weiterem,
tieferen Nachdenken anregen, eben ohne jeweils streng wissenschaftlichen Bezug. Wenn
ersteres sogleich als Spintisiererei abgekanzelt wird, können wir hier wirklich bald
aufhören. Und Meinungsmache ist das schon gar nicht!!
Auf das Zitat „Stößt ein Tier auf ein Hindernis, so schwimmt es zunächst, durch Umkehr
des Cilienschlages, ein Stück zurück, hält an, beschreibt mit dem Vorderende einen
kleinen Kreisbogen und schwimmt in der so gewonnenen neuen Richtung wieder vorwärts.“ bin
ich nun auch gestoßen, nachdem ich mich jetzt genauer über die spezifische Bewegungsart
des Parmecium kundig gemacht habe.
Mit dieser, die oberflächliche Beobachtung des Bewegungsablaufs (als plump unkoordinierte
Vor-/Rückwärts-/Drehbewegung zur Hindernisumgehung) betreffenden Beschreibung ist
allerdings in keinem Fall die gesamtheitlich (Sensorik, Bioreaktion mittels
Aktions-Potentiale, Variation der Linearität der Schwimmbahnen durch äußere Einflüsse wie
Licht, Temperatur, chemische Reize etc.) angelegte Navigierung des Bewegungsprofils als
„Informationsverarbeitung“ dargelegt.
Nun zitiere ich aber tatsächlich zu diesem Thema Paramecium aus einem wissenschaftlichen
Bericht und würde gerne nochmal die Diskussion aufnehmen, ob die Navigation dieser
Tierchen nur ein plump unkoordiniertes (rein zufälliges) Bewegungsmuster zur
Hindernisumgehung ist oder doch eher ein intrinsisch angelegter Selbststeuerungprozess
stattfindet: "Integrative Neuroscience of Paramecium, a “Swimming Neuron” Romain
Brette (
https://doi.org/10.1523/ENEURO.0018-21.2021
<https://doi.org/10.1523/ENEURO.0018-21.2021>)"
Was auf den ersten Blick tatsächlich wie ein "pseudo-random"-Bewegungsmuster
erscheint ist letztlich dennoch zielführende Hindernisumgehung, wie eben beim Saugroboter
durch die im Hauptprogramm eingebettete Fuzzy-Logic bewerkstelligt.
In diesem "Random" spiegelt sich das für mich entscheidende Prinzip von Zufall
und Notwendigkeit wider. Die Gewichtung im Verhältnis von Zufall zur Notwendigkeit ist
bekanntlich ein wesentlicher Faktor der Evolution.
Die nachfolgend zitierte Passage aus (
www.eneuro.org/content/8/3/eneuro.0018-21.2021
<http://www.eneuro.org/content/8/3/eneuro.0018-21.2021>) zeigt, dass es sich nicht
nur! um eine plumpe Vor-/Rückwärts-/Drehbewegung handelt, sondern äußere Einflüsse auf das
Paramecium entscheidenden Einfluss auf die Navigation ausüben:
Navigating
When Paramecium encounters a solid obstacle, it swims backward for a fraction of second,
still revolving around its long axis, then the anterior end turns while the posterior end
is still (Fig. 2A). This is called the avoiding reaction; it forms the basis of much of
its behavior. According to Jennings, the organism always turns toward the same
structurally defined side, the “aboral” side (away from the oral groove; Jennings, 1899a),
although systematic measurements are lacking. But since it also revolves along its long
axis, from a fixed viewpoint the change in direction may alternate between left and right.
Thus, the change in direction may be considered as pseudo-random.
The avoiding reaction is graded (Fig. 4). A weak stimulus may only trigger a gentle
reorientation with no backward swimming (Fig. 4A), while a stronger stimulus induces
backward swimming and reorientation (Fig. 4B).
A very strong stimulus may trigger long backward swimming followed by turning a complete
circle (Fig. 4C). This graded reaction parallels the graded action potential: the duration
of backward swimming correlates with the stimulus-induced depolarization (Machemer and
Eckert, 1973).
Paramecium also reacts when the rear is touched, but in a different way (Fig. 5A): it
swims forward faster, by beating its cilia up to twice faster (Machemer, 1974). This speed
increase is accompanied by a contraction along the longitudinal axis (Nakaoka and
Machemer, 1990). This is called the escape reaction, first described by Roesle in 1903
(Roesle, 1903), then by Jennings (Jennings, 1904).
Non-localized mechanical stimulation, as when shaking a tube of Paramecium culture, also
induces an increase in swimming speed that can last for several minutes.