ok, attachments gehen wohl nicht mit durch, also etwas gestückelt,
gruss, rainer
Taz 27. 7. 2019
Geplatzte Seifenblase
Der ökologische Ernstfall verlangt eine Neujustierung der persönlichen Freiheiten
VON NIKO PAECH
Was sich derzeit abspielt, entspricht jener lebensbedrohlichen Eskalation, die alle
aufgeklärten Kräfte seit Jahrzehnten verhindern wollten: Der Klimawandel, die Flut an
Plastik- und Elektroabfällen, das Insekten-, Singvogel- und sonstige Artensterben, die
Natur- und Landschaftszerstörung, die chemische Verseuchung und Entwertung von Böden, die
Strahlen- und Lärmbelastung, der Lichtsmog und so weiter. Es lässt sich kein ökologisch
relevantes Handlungsfeld benennen, in dem die Summe der bekannten und neuen Schäden nicht
permanent neue Rekorde erzielt hätte. Das propagierte und bequemste aller problemlösenden
Regulative, nämlich ein technischer Wandel der Versorgungssysteme, versprach ein auf
ständiges Wachstum angewiesenes Wohlstandsmodell von ökologischer Zerstörung zu
entkoppeln. Dieser Irrweg ist nun selbst dort gescheitert, wo akribisch versucht wird,
wenigstens kleine Entlastungserfolge herauszurechnen, etwa bei der Energiewende.
Technischer Umweltschutz war nie etwas anderes und kann nie etwas anderes sein als eine
räumliche, stoffliche, zeitliche oder systemische Problemverlagerung. It’s the
thermodynamics, stupid!
Auch der zweite Hebel, nämlich eine kollektive Verständigung auf Rahmenbedingungen mit
Anreiz-, Lenkungs- oder nötigenfalls Sanktionswirkung – die aktuell durchs Dorf getriebene
Sau heißt CO2-Steuer – versagt vollends. Deren Befürworter haben einen epochalen
Wendepunkt übersehen: Wenn nämlich die technische Entkopplung des Wohlstandes systematisch
misslingt, verändern sich nicht einfach nur Ziele und Mittel einer dann noch adäquaten
Nachhaltigkeitskonzeption, sondern mehr noch die Möglichkeiten einer demokratischen
Regulierung des ökologischen Problems. Genauer: Sie entfallen!
Was die Energiewende politisch attraktiv werden ließ, war das Versprechen, mittels
technischer Innovationen lediglich die Umrandung, aber nicht das Innere des
Wohlstandskorpus umzubauen. Liebgewonnener Konsum- und Mobilitätskomfort sollte weiter
bestehen und wachsen dürfen, nur eben ersetzt durch grünere Substitute mit serienmäßig
eingebauter Gewissensberuhigung. Kein Wunder, dass damit Wahlen zu gewinnen waren. Nun ist
diese grüne Seifenblase geplatzt. Das bedeutet, die einzig wirksame politische Steuerung
kann nur noch darin bestehen, den von der Bevölkerungsmehrheit zunehmend praktizierten
ökologischen Vandalismus, sein Kosename lautet
„individuelle Freiheit“, radikal einzuschränken. Dumm nur, dass dafür demokratische
Mehrheiten nötig wären. Im Klartext: Die Mehrheit müsste ihren eigenen Lebensstil
abwählen, sich quasi um 180 Grad wenden, nämlich plötzlich befürworten, was seit dem
Zweiten Weltkrieg jede gesellschaftliche Modernisierung auszumerzen versucht hat:
Genügsamkeit, Selbstbegrenzung, Entsagung. Also Suffizienz. Ein solches politisches Wunder
dürfte unwahrscheinlicher sein als eine Begegnung mit dem leibhaftigen Osterhasen.
Dieses Dilemma kulminiert in einer Doppelmoral, die längst zum Normalzustand geronnen ist.
Einerseits dröhnt ein unüberhörbarer Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsfuror, andererseits
wird mit Zähnen und Klauen eine digitale, kosmopolitische und konsumorientierte Lebensform
verteidigt, die ökologisch suizidaler nicht sein könnte. Um diese Widersprüchlichkeit zu
verarbeiten, hat sich im Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und
Politikvertretern ein Zustand stabilisiert, der dem katholischen Ablasshandel ähnelt.
Während sich die Lebens- und Wirtschaftsform immer nachhaltigkeitsdefizitärer entwickelt,
werden zugleich – wohlgemerkt grüne Produkte (vegane, ökologische Speisen, faire
Smartphones, erneuerbarer Strom etc.), Technologien (Elektromobilität, Power-to-Gas etc.)
und simulierte Nachhaltigkeitsbemühungen (Verbot von Plastikstrohhalmen, Gebot von
PV-Anlagen auf Neubauten etc.) befördert, die bestenfalls an der Problemoberfläche
kratzen. Oder sie ergießen sich in rituelle Forderungen, die abstrakt und unverbindlich
genug sind, sodass sie einerseits nicht falsch sein können, aber andererseits ihre
technische oder politische Realisierung in so unerreichbarer Ferne liegt (etwa eine
CO2-neutrale Wirtschaft), dass keine absehbaren Konsequenzen für die eigene Lebensführung
zu befürchten sind.
Damit erfolgt eine rein symbolische Kompensation, die das „Weiter so“ legitimiert, weil
damit sowohl kognitive Dissonanzen therapiert werden können wie auch der Schein
moralischer Korrektheit gewahrt bleiben kann. Dieser rasende Stillstand ebnet den Weg zum
Abgrund. Er ließe sich nur mittels eines dritten Regulativs durchbrechen, das angesichts
des kläglichen Scheiterns aller Technik- und Institutionenklempnerei auf einer anderen,
nämlich zwischenmenschlichen Ebene verortet sein müsste. Gemeint ist eine Mischung aus
reaktivierter, aber demokratischer Streitkultur und einem Aufstand der konkret Handelnden,
die sich dem Steigerungswahn verweigern.
Dieses soziale Regulativ gründet darauf, dass kein Menschenrecht auf ökologische
Zerstörung bestehen kann – außer es lassen sich dafür akzeptable Gründe anführen. Aber
genau das wäre dialogisch zu klären. Dies kann und darf nicht willkürlich erfolgen,
sondern nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit. Hierzu bedarf es einer Unterscheidung
zwischen essenziellen Bedürfnissen und spätrömischer Dekadenz. Nichts könnte
sozialpolitisch plausibler sein, als dort die dringend nötigen Reduktionen einzufordern,
wo Handlungen galaxienweit von einer Befriedigung basaler Grundbedürfnisse entfernt sind.
Es entspricht überdies jeder ökonomischen Logik, die knappeste aller Ressourcen, nämlich
die Nutzung der Ökosphäre, zuvörderst dort einzusetzen, wo sie die eklatanteste Not
lindert.
Wer wollte ernsthaft eine würdige Unterkunft, Elektrizität, notwendigen Berufsverkehr,
eine Konsumausstattung, die auch maßvoll über den reinen Grundbedarf hinausreichen kann,
Zugang zu maximaler Gesundheitsversorgung und Bildung sowie einen ökologisch
verantwortbaren Urlaub kritisieren? Aber umgekehrt ist noch niemand erfroren, verhungert
oder erkrankt, wenn er/sie keine Kreuzfahrt, keine Flugreise, keinen SUV, keine maßlose
Neuanschaffung an Elektronik und anderen Konsumgütern oder keine 100 Quadratmeter
Wohnfläche pro Kopf etc. in Anspruch nehmen konnte.
Wenn nackte Gewalt gegen die menschliche Zivilisation gerichtet wird, und zwar ohne
erkennbare Not, entspricht es aufgeklärtem und durchaus liberalem Bürgersinn, dies im
Rahmen direkter Kommunikation zu thematisieren, um Rechtfertigungsdruck aufzubauen. Dafür
bieten sich viele Orte an:Schulen, Universitäten, Familien/Lebensgemeinschaften,
Freundeskreise, Nachbarschaften, Wirtshäuser, Sportvereine, Partys, Nachbarschaften,
öffentliche Veranstaltungen und natürlich die Medien. Insoweit es absehbar um die
Überlebensfähigkeit geht, sollte es unter aufgeklärten Verhältnissen nötig und möglich
sein, menschliche Freiheiten mit der Frage zu konfrontieren, wie sie sich gemäß einer
Verhältnismäßigkeit zwischen Notwendigkeit und zerstörerischem Potenzial rechtfertigen
lassen.
Einen kritischen Dialog können glaubwürdig und wirksam nur Personen initiieren, die selbst
eine verantwortbare Lebensführung praktizieren. Denn ein Analphabet kann einem anderen
Analphabeten nicht lesen und schreiben beibringen, und jede Kritik oder Forderung entpuppt
sich als Scharlatanerie und Anmaßung, wenn sie schon im Selbstversuch desjenigen
scheitert, der sie erhebt. Eine Neujustierung individueller Freiheit bedeutet weder
Ökodiktatur noch Öko-Stasi. Wenn der Planet erstens physisch begrenzt ist, zweitens
industrieller Wohlstand nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden kann, drittens
die irdischen Lebensgrundlagen dauerhaft erhalten bleiben sollen und viertens globale
Gerechtigkeit herrschen soll, muss eine Obergrenze der von einem einzelnen Individuum in
Anspruch genommenen materiellen Freiheit existieren. Diese kann sich nur an der
Gesamtbilanz aller ökologischen Handlungsfolgen bemessen, die ein einzelnes Individuum
verursacht. Längst bekannt
ist, dass allein die Einhaltung des 2-Grad-Klimaschutzziels für Mitteleuropa bedeutet,
dass die CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr von ca. 12 auf ca. 2 Tonnen zu senken wären.
Genau daran wäre das soziale Regulativ zu orientieren, damit es nicht auf Willkür beruht.
Wer weiter auf technologische oder politische Erlösung vertraut, steuert auf eine
unvermeidliche Eskalation zu. Wenn Verteilungskonflikte entbrennen und für manche der
Kampf um ein würdiges Dasein beginnt, wird sich niemand mehr für eine Demokratie
einsetzen, die offenkundig am Minimum dessen gescheitert ist, was Humanität bedeutet:
Überlebensfähigkeit. Wer also die Freiheit bewahren will, darf sie nicht im Übermaß
beanspruchen, sondern muss sie vorsorglich und freiwillig begrenzen.
Die hierzu nötige Suffizienz erweitert aber auch Handlungsfreiheiten, weil sie sich
behindernder materieller sowie institutioneller Vorbedingungen entledigt. Ballast
abzuwerfen, sich dem Steigerungswahn zu entziehen, verführerische Komfortangebote auch
dann einfach links liegen zu lassen, wenn sie finanzierbar und legal sind, das Vorhandene
als auskömmlich zu betrachten und gegen aufdringlichen Fortschritt zu verteidigen,
gemeinsam mit anderen den Mut zum Unzeitgemäßen entwickeln – dies alles kostet nichts,
bedarf keiner innovativen Erfindung, ist nicht von Mehrheiten abhängig, verstößt gegen
kein Gesetz und benötigt vor allem keines. Ein friedlicher und fröhlicher Aufstand der
sich Verweigernden – besser noch: ein maßvoller Wohlstands- und Technologieboykott –
verbleibt als letzter Ausweg. Die Zeit der Ausreden ist vorbei.
Am 19.08.2019 um 22:42 schrieb Rainer Alisch
<alisch(a)zedat.fu-berlin.de>de>:
<Geplatzte Seifenblase - taz.de.pdf>