Am 13.07.2022 um 12:51 schrieb Ingo Tessmann:
Wissenschaftswettbewerb oder endlose Spintisiererei? Behauptungen zu
belegen, ist stets angezeigt, sowohl alltäglich als auch in philweb.
Am 7.7.22 hattest Du geschrieben: „Nehmen wir ein Paramecium (Gattung
der eukaryotischen, einzelligen Ciliaten), das sich in einer
Brackwasserlache auf ein Hindernis zu bewegt. Dort angestoßen,
registriert es der Einzeller und speichert diese Information (wo auch
immer) ab, um diese Stelle beim nächsten Anlauf zu meiden. Auf
diese Weise bildet sich ein Bewegungsmuster, das diesem hirnlosen
Wesen zur Koordination seiner künftigen Fortbewegung dient.“
Darauf hatte ich folgende Beobachtung aus einem Lehrbuch zitiert:
„Stößt ein Tier auf ein Hindernis, so schwimmt es zunächst, durch
Umkehr des Cilienschlages, ein Stück zurück, hält an, beschreibt
mit dem Vorderende einen kleinen Kreisbogen und schwimmt in der
so gewonnenen neuen Richtung wieder vorwärts.“ Allein wiederholt
abgewandelte Hin- und Herbewegungen reichen also aus, um Hindernisse
zu überwinden. Du nimmst demgegenüber eine „Gedächtnisleistung" zur
Bildung von Bewegungsmustern an und sprichst von wo auch immer
abgespeicherter Information. Solange Du keine Belege dafür anführst,
bleibt es Spintisiererei, die Du auch noch beizubehalten gedenkst. Ich
halte eine solche leider weit verbreitete Meinungsmache alltäglich und
philosophisch für verfehlt — und frage mich, warum mich das überhaupt
noch was angeht; denn Methodiker und Begriffsgymnastiker werden
schwerlich jemals zusammenkommen.
Also nochmal zu meiner „Spintisiererei“ bezüglich meines Beispiels von
Selbstorganisation-/regulierung.
Zunächst sei gesagt, dass ich das Paramecium mehr oder weniger aus dem
Stehgreif (mich an eine Passage aus einem Sachbuch sic! erinnernd)
heraus als Beispiel genommen habe, ohne vorher in ein Lehrbuch gesehen
zu haben.
Einige von uns hier werden sich wie ich (mehr oder weniger vage) an den
Biologieunterricht erinnern, wo der Blick durch das Mikroskop auf einen
Wassertropfen (aus dem Pflanzenteich der Schule) die seltsam ruckartigen
Bewegungen der Pantoffeltierchen erkennen ließ. Viel mehr gab es zu
dieser Zeit nicht zu erfahren und es hat mich auch nicht weiter
interessiert. Heute sollte/würde ich vielleicht Biologie anstatt Technik
studieren.
Im Zusammenhang mit Selbststeuerung (bezogen auf
Mustererkennung/Form/Information) kam mir dann diese Analogie in den
Sinn und vermutlich auch deshalb, weil ich hier ein anschauliches
Beispiel wählen wollte, um nicht noch mehr Komplexität in die von mir
bisweilen (oder sogar üblich) abstrakten Darlegungen einzubringen.
Offensichtlich konnte man dieses Ansinnen nicht erkennen oder eher
gesagt: ich vermag es nicht, das so zu vermitteln. Also bleibt es wohl
Spintisiererei.
Keinesfalls habe ich jedoch gesagt, dass ein Paramecium eine
„Gedächtnisleistung“ bei seiner Navigation (also seinem typischen
Bewegungsprofil) erbringt! Vielmehr gehe ich von einer Art
Informationsverarbeitung (sensorisches Erfassen der räumlichen
Geometrie (also Form der Umgebung), die selbstredend nicht mit jener
hochentwickelter Lebewesen gleichzusetzen ist. Zudem schrieb ich, dass
nicht „Antriebstechnik“ an sich, sondern das autonome Erstellen eines
zielgerichteten Bewegungsprofils (Hindernisumgehung!) als eine Art
Selbststeuerung gesehen werden kann. In diesem Kontext interessant ist
die von Forschern beobachtete Reaktion (z.B. Chemotaxis), dass die
Einzeller bei ungünstigen Umwelteinflüssen (chemische, thermische Reize
etc.) mit Orientierungsbewegungen reagieren, um in günstigere Umgebung
zu schwimmen (Chemotaxis).
Im Kern will und wollte ich darauf hinaus, wie diese Grundmuster von
Formerkennung und Informationsbildung/-verarbeitung sich schon in
einfachsten Strukturen von Leben zeigen. Das sollte ich natürlich nicht
unbedingt am Beispiel der Biologie (so faszinierend sie auch ist - aber
leider mein blinder Fleck im Wissensspeicher) aufzeigen und daher auch
zusätzlich und als Analogie (im weiteren Sinne) das Saugroboter-Beispiel.
Aber nochmal: Soll man hier grundsätzlich lebensnahe und aber dennoch
tiefer greifende Themen ausschließlich mit dem Anspruch an
wissenschaftlich belegte Beiträge diskutieren müssen oder kann man
derartige Themen einfach mal aufgreifen und damit zu weiterem, tieferen
Nachdenken anregen, eben ohne jeweils streng wissenschaftlichen Bezug.
Wenn ersteres sogleich als Spintisiererei abgekanzelt wird, können wir
hier wirklich bald aufhören. Und Meinungsmache ist das schon gar nicht!!
Auf das Zitat „Stößt ein Tier auf ein Hindernis, so schwimmt es
zunächst, durch Umkehr des Cilienschlages, ein Stück zurück, hält
an, beschreibt mit dem Vorderende einen kleinen Kreisbogen und schwimmt
in der so gewonnenen neuen Richtung wieder vorwärts.“ bin ich nun auch
gestoßen, nachdem ich mich jetzt genauer über die spezifische
Bewegungsart des Parmecium kundig gemacht habe.
Mit dieser, die oberflächliche Beobachtung des Bewegungsablaufs (als
plump unkoordinierte Vor-/Rückwärts-/Drehbewegung zur Hindernisumgehung)
betreffenden Beschreibung ist allerdings in keinem Fall die
gesamtheitlich (Sensorik, Bioreaktion mittels Aktions-Potentiale,
Variation der Linearität der Schwimmbahnen durch äußere Einflüsse wie
Licht, Temperatur, chemische Reize etc.) angelegte Navigierung des
Bewegungsprofils als „Informationsverarbeitung“ dargelegt.
Nun zitiere ich aber tatsächlich zu diesem Thema Paramecium aus einem
wissenschaftlichen Bericht und würde gerne nochmal die Diskussion
aufnehmen, ob die Navigation dieser Tierchen nur ein plump
unkoordiniertes (rein zufälliges) Bewegungsmuster zur Hindernisumgehung
ist oder doch eher ein intrinsisch angelegter Selbststeuerungprozess
stattfindet: "Integrative Neuroscience of Paramecium, a “Swimming
Neuron” Romain Brette (
https://doi.org/10.1523/ENEURO.0018-21.2021)"
Was auf den ersten Blick tatsächlich wie ein
"pseudo-random"-Bewegungsmuster erscheint ist letztlich dennoch
zielführende Hindernisumgehung, wie eben beim Saugroboter durch die im
Hauptprogramm eingebettete Fuzzy-Logic bewerkstelligt.
In diesem "Random" spiegelt sich das für mich entscheidende Prinzip von
Zufall und Notwendigkeit wider. Die Gewichtung im Verhältnis von Zufall
zur Notwendigkeit ist bekanntlich ein wesentlicher Faktor der Evolution.
Die nachfolgend zitierte Passage aus
(
www.eneuro.org/content/8/3/eneuro.0018-21.2021
<http://www.eneuro.org/content/8/3/eneuro.0018-21.2021>) zeigt, dass es
sich nicht nur! um eine plumpe Vor-/Rückwärts-/Drehbewegung handelt,
sondern äußere Einflüsse auf das Paramecium entscheidenden Einfluss auf
die Navigation ausüben:
Navigating
When Paramecium encounters a solid obstacle, it swims backward for a
fraction of second, still revolving around its long axis, then the
anterior end turns while the posterior end is still (Fig. 2A). This is
called the avoiding reaction; it forms the basis of much of its
behavior. According to Jennings, the organism always turns toward the
same structurally defined side, the “aboral” side (away from the oral
groove; Jennings, 1899a), although systematic measurements are lacking.
But since it also revolves along its long axis, from a fixed viewpoint
the change in direction may alternate between left and right. Thus, the
change in direction may be considered as pseudo-random.
The avoiding reaction is graded (Fig. 4). A weak stimulus may only
trigger a gentle reorientation with no backward swimming (Fig. 4A),
while a stronger stimulus induces backward swimming and reorientation
(Fig. 4B).
A very strong stimulus may trigger long backward swimming followed by
turning a complete circle (Fig. 4C). This graded reaction parallels the
graded action potential: the duration of backward swimming correlates
with the stimulus-induced depolarization (Machemer and Eckert, 1973).
Paramecium also reacts when the rear is touched, but in a different way
(Fig. 5A): it swims forward faster, by beating its cilia up to twice
faster (Machemer, 1974). This speed increase is accompanied by a
contraction along the longitudinal axis (Nakaoka and Machemer, 1990).
This is called the escape reaction, first described by Roesle in 1903
(Roesle, 1903), then by Jennings (Jennings, 1904).
Non-localized mechanical stimulation, as when shaking a tube of
Paramecium culture, also induces an increase in swimming speed that can
last for several minutes.