Am 17.07.2023 um 12:07 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
mir erscheinen Deine Beiträge nicht grundsätzlich abwegig, in einigen (vornehmlich
naturwissenschaftlichen) Bereichen haben wir m.E. hinreichenden Konsens.
Moin Karl,
Friederike Schmid von der Uni Mainz beschließt ihre Einführung in die Quantenmechanik mit
einem Anhang: Geschichte und Deutung der Quantentheorie mit ausgewählten Texten für
Studierende mit Interesse an Grundlagendiskussionen. Darin heißt es: "Es stellt sich
die Frage, wie eine klassische Welt auf der Basis einer universell gültigen Quantentheorie
überhaupt möglich ist. Das Zauberwort, mit dem das Unerklärliche erklärt werden soll,
heißt Dekohärenz. Damit ist das sich Herausbilden einer klassischen Welt aus einer
quantenmechanischen Basis gemeint, die Emergenz von klassischen Eigenschaften aus einem im
Allgemeinen nichtklassischen Verhalten. Wie diese Dekohärenz konkret aussieht und unter
welchen besonderen Bedingungen sie sich ereignet, das vermag gegenwärtig niemand
überzeugend zu sagen. Es gibt unzählige Vorschläge und Erklärungsmodelle, die aber alle
ihre Schwachstellen haben und maßgeblichen Einwänden ausgesetzt sind.“
In der Einleitung zu seiner "Statistical Interpretation of Quantum Mechanics“ zitiert
Hans Rudolf Tschudi von der ETHZ Einstein mit den Worten: "One arrives at very
implausible theoretical conceptions, if one attempts to maintain the thesis that the
statistical quantum theory is in principle capable of producing a complete description of
an individual system. On the other hand, those difficulties of theoretical interpretation
disappear, if one views the quantum-mechanical description as the description of ensembles
of systems.“ Demgegenüber hob Bohr in seinem programmatischen Text zum Quantenpostulat
hervor, „dass der Sinn der Theorie zum Ausdruck gebracht werden kann durch das sog.
Quantenpostulat, wonach jeder atomare Prozeß einen Zug von Diskontinuität bzw.
Individualität enthält, der den klassischen Theorien vollständig fremd ist.“
An das aneinander Vorbeischreiben Bohrs und Einsteins hat sich unter ihren Nachfolgern bis
heute kaum etwas geändert. Tschudi zitiert dazu Mermin: "In recent paper entitled
`Making better sense of quantum mechanics', N. D. Mermin writes: `More than ninty
years after the invention of quantum mechanics, we find ourselves in a strange situation.
Quantum mechanics works. Indeed, no theory of physics has ever had such spectacular
success. Yet despite this unprecedented success there is notorious disagreement about …
The sentence fades away because it is not so easy to say what the disagreement actually is
about. Everybody who has learned quantum mechanics agrees how to use it. ’Shut up and
calculate!’ There is no ambiguity, no confusion, and spectacular success. What we lack is
any consensus about what one is actually talking about as one uses quantum mechanics.
There is an unprecedented gap between the abstract terms in which the theory is couched
and the phenomena the theory enables us so well to account for. We do not understand the
meaning of this strange conceptual apparatus that each of us uses so effectively to deal
with our world’.“
Und wir hier in der Runde schreiben nunmehr auch schon seit einem Vierteljahrhundert
aneinander vorbei. Ich werde nicht müde, mich gegen die Kopenhagener und Du nicht müde für
sie zu schreiben. Warum hat die Kopenhagener Deutung soviel mehr Zuspruch gefunden, sowohl
unter den Physik Treibenden wie im Publikum unter dem Eindruck der unzähligen populären
Schriften? Für mich steckt neben Eitelkeiten natürlich die allgegenwärtige Propaganda für
eine idealistische Geisteshaltung dahinter. Ein entlarvendes Buch dazu hat ja Mara Beller
geschrieben, über das wir uns hier schon einmal ausgetauscht hatten: "Quantum
Dialogue: The Making of a Revolution“. Ihre Kurzfassung von 1996 ist heute frei verfügbar:
"The Conceptual and the Anecdotal History of Quantum Mechanics“. Zu einer umfassenden
Ideologiekritik des Herbeischreibens eines Umsturzes der klass. zur modernen Physik bin
ich noch nicht gekommen. Beller hätte es wohl vermocht, starb aber zu früh. Leider werden
Klein (vgl. Mail v. 19.6.) und Tschudi mit ihren statistischen Interpretationen den vielen
Quantenideologen auch nicht den Wind aus den Segeln nehmen können.
Jetzt ist mir auch eine Mail zu lang geraten, also nur noch zwei Anmerkungen …
Somit wird deutlich, dass Sinnstiftungen und Moralen
durchaus notwendig sind, wobei sie selbstredend funktional sein sollten.
Ich hatte doch schon RF auf den Unterschied zwischen funktionaler und nomologischer
Erklärung aufmerksam zu machen versucht. Siehst Du den grundsätzlichen Unterschied
zwischen beiden auch nicht? Nur die Natur genügt nomologischen Erklärungen (die logisch
notwendige Schlüsse zulassen), die Kulturen lediglich funktionalen (die nur logisch
hinreichende Schlüsse zulassen). Oder hast „notwendig“ bloß metaphorisch gemeint? Und
stiften nicht auch die Wissenschaften Sinn und tragen zur Rationalität der Moralen durch
Ethik bei? Ich leugne ja keine Qualitäten, halte sie den Quantitäten nur für nachgeordnet
aus Differenzen oder Schwellen hervorgehend.
PS: Nun noch zu den Wärmepumpen. So diese in
vorbildlich nordischen Ländern längst im Einsatz sind (wobei ich diese dort nicht an jedem
Haus entdeckt habe), muss man doch die strukturellen Gegebenheiten vergleichend in
Betracht ziehen.
Es gibt bereits Großwärmepumpen für Fernwärme, die auch von deutschen Firmen produziert
werden. Nicht strukturelle Gegebenheiten scheinen mir ihren Einsatz in Deutschland zu
verhindern, sondern die Machtpolitik des fossilen Imperiums. Oder nach dem Prinzip des
Tauchsieders funktionierende Power-to-Heat-Anlagen, von denen gerade eine für Fernwärme in
Hamburg in Betrieb genommen wurde. Der Norden hat ja seit langem Windstrom im Überfluss,
aber warum der erst jetzt für Fernwärme nutzbar gemacht werden konnte, ist eine Folge der
verfehlten christlichen Machtpolitik des „Kohle von Beust", der Hamburg seinerzeit
ein Kohlekraftwerk bescherte, das verlustreich wieder außer Betrieb genommen werden
musste.
IT