m Di., 1. Juni 2021 um 11:33 Uhr schrieb Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
Aber wieso ist „Das Versprechen“ für Dich "eine
Art antirationalistischer Krimi“? Ich halte die Berücksichtigung des Zufalls für
rationaler
als seine Leugnung oder Vernachlässigung, bestimmt er doch wesentlich die Natur insgesamt
wie unser aller Leben im Besonderen. Rüedi
zitiert in seiner Biographie Dürrenmatt mit den Satz: „Gerechtigkeit, Gnade, Kausalität,
Zufall; diese Motive gehören bei mir zur gleichen
Gedankenatmosphäre.“ Wenn sich darüber nicht trefflich philosophieren ließe!?
Dürrenmatts "Das Versprechen" wurde von ihn ganz bewusst als Reaktion
auf solche Figuren wie Sherlock Holmes und andere Whoduits entworfen.
Während der Held, in der Regel ein Detektiv oder Polizist, seltener
Journalist oder andere Berufe, in einem Whoduit eben Verbrechen mit
der Kraft seines Verstandes aufklärt, erledigt diesen Job in "Das
Versprechen" der Zufall.
Ein Autounfall, der im Prinzip jeden hätte treffen können, tötet den
Verbrecher, der Fall bleibt unaufgeklärt.
Die Hauptfigur zerbricht daran.
Besonders Sherlock Holmes versinnbildlicht ja die Vorstellung davon,
dass man mittels des menschlichen Verstandes alle Probleme lösen kann.
Durch Nachdenken, Beobachtung und Schlussfolgerung, wie es die Figur
selbst ausdrücken wurde. Viele andere Krimiautoren haben ihre Storys mehr oder
weniger nach diesen Vorbild aufgebaut, inklusive exzentrischer
Schrullen oder psychischer Probleme.
Gegen exakt diese Art von Rationalismus wendet sich meines Erachtens
"Das Versprechen".
Er wendet sich aber natürlich nicht an die verstandesmäßige
Herangehensweise an die Welt an sich oder gegen den Rationalismus der
Erkenntnistheorie. Sogar einen "metaphysischen" Rationalismus könnte
man noch angedeutet sehen, dem bösen Menschen geschieht nämlich auch
schreckliches, der Autoumfall.
Wobei der metaphysische Rationalismus zunächst einmal nur postulierte,
dass die Welt insgesamt irgendwie "vernünftig" aufgebaut ist.
Dürrenmatt hat sich meines Wissens durchaus auch öffentlich kritisch
zu dieser Art von Rationalismus geäußert. Das war im Rahmen einer
Reihe von P. Feyerabend (und Christian Thomas) an der ETHZ. Gelesen
habe ich das erst vor einiger Zeit und ich finde die Quelle grade
nicht mehr.