Lieber Ingo,
obwohl nicht selber angesprochen, möchte ich mich für Deine Hinweise - hier auf den
Geographen-Artikel zu Sloterdijk - bedanken - ebenso allen anderen, die mir wichtige
Hinweise gaben.
Vorab Teile Deiner Fragen aus der E-Mail vom 17.1.:
aber das sind doch nur Worte: „eine sich auf der Grundlage ihres Potenzials
verwirklichende Kohärenz“. Das Standard-Modell dagegen ist detailliert mathematisch
ausformulierte physikalische Theorie, die durch umfangreiche Experimentalaufbauten ergänzt
wird. Was Physiker mit „Potential“ und „Kohärenz“ meinen, wird ja formal und operational
definiert, aber was Ihr damit meint, werden wieder nur Worte sein, oder? Bei Aristoteles
waren es ja auch nur der Umgangssprache entlehnte Worte. Grundsätzlich aber können doch
Worte keine anders gearteten Beschreibungen für Formeln und Messergebnisse sein. Aber es
geht ja noch weiter …
Sind „Ansichtigkeiten" aus vollständigen Funktionensystemen entwickelbare
physikalische Größen oder ist das nur metaphorisch gemeint?
Dann, anstatt reflexhaft und in symmetrischer Eskalation auf das wertmindernde „nur“ (nur
Worte, nur Metaphern) einzudreschen (mit dem Ausdruck heftigster Empörung: aber Worte sind
doch….!!!!, Aber Metaphern sind doch….!!!!), mache ich zunächst Gebrauch von dem von Dir
erwähnten Artikel der Geographen.
Zitate hieraus:
kann Sloterdijks Mensch nicht umstandslos in der Welt sein, sondern muss sich in
symbolisch-sozial-materiell-technischen Räu- men einwohnen. Diese Räume fügen sich zu
den Bewandtnisganzheiten zusammen, die Sloterdijk Blase oder Sphäre nennt. Innerhalb
seines Lebens muss der Mensch in immer neue Sphären ein- und umziehen und kommt dadurch
stän- dig unter verschiedenen Umständen neu zur Welt (Sloterdijk, 1998, 2001a; vgl.
hierzu auch ten Bos, 2009).
Diese prozesshafte Formulierung der Menschwerdung als ständige Neugeburt ist Grundlage
für seine am Humanismus formulierte Kritik (Sloterdijk, 1999b),
Das grundlegende Prinzip um den Gefahren zu begegnen, ist die Einübung erfolgreicher
Überlebensstrategi- en und deren Routinisierung.
Die Innen-Außen-Spannung bzw. Offenheits-Abschließung- Spannung verleiht den Sphären
dabei ihre Dynamik und wird in ihnen nie aufgelöst (Sloterdijk, 2004:56). Durch die
Über- tragung des Außen in das Innen und das Üben von Anthropo- techniken kann eine
Blase expandieren.
Hier greift nach Sloterdijk das Prinzip „Nachbarschaft“. Eine Gesellschaft ist keine große
Sphäre, die alle Menschen in ei- nem bestimmten Territorium einschließt, sondern eine
Nach- barschaft von vielen Blasen,
nicht primär durch Kommunikation, sondern folgt einer mimetischen Ausbreitungslogik,
„ein Aggregat aus Mikrosphären (Paare, Haushalte, Betriebe, Verbände) verschiedenen
Formats, die wie die einzelnen Blasen in einem Schaumberg aneinander- grenzen und sich
über- und untereinander schichten,
Pole in einem multipolaren affekt- schwingenden Nähe-Feld (Sloterdijk, 2004:257).
Dem- gemäß stehen Mensch und Dinge sich nicht wie Sphären- inneres und Sphärenäußeres
gegenüber, sondern verschmel- zen in „sphäropoetische[n] Prozessen“ (Sloterdijk,
2004:64). Stimmungen und Atmosphärentönungen materialisieren sich in architektonischen
Strukturen, wobei diese direkt auf jene rückwirken. Sphärennachbarschaften teilen
ähnliche Raum- und damit Gebäude-Erzeugungsregeln (Sloterdijk, 2004:64– 65, 475).
Der Begriff „Atmosphären“ ist dabei als Brückenkonzept zwischen Mensch und Ort sowie
Dingen zu verstehen – es ist der Modus indem sie miteinander verschränkt sind.
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So, wer das überstanden hat („nur“ Worte in Reinkultur :-) ) und wer zugleich ein in
systematischem Denken Geübter ist, der die das wird sich nach einer systematischen
Ausdrucksweise sehnen und diese vermissen.
Zu dieser ein Verweis auf das von unserer Gruppe Erarbeitete:
Unser Konzept setzt systematisch bereits bei der Ding-Konstitution an. Wir sehen es als
durch Beobachtung festgestellte parallele und serielle Binnenkontinuität, deren
In-Sich-Zusammenhängen sich auf auf das Interagieren mit anderem In-Sich-Zusammenhängendn
erstreckt. Aus den auch zahlenmäßigen Feststellungen wird geschlossen, dass hier ein in
sich zusammenhängendes und als solches von anderem In-Sich-Zusammenhängendem abgrenzbares
Etwas vorliegt, eine distinkte Identität im Verhältnis zu nicht in dieser Art
Zusammenhängendem und somit von Letzterem Unterscheidbaren.
Die aus den Beobachtungen (die eine Zeitspanne überbrücken müssen, um Beständigkeit /
Wiederholbarkeit überhaupt konstatieren zu können) geschlossene selbst-identische und
Interaktions-identische Identität stellt formal einen Schluss aus Beobachtungen dar und
ist eine aus Beobachtungen geschlossene Annahme, genannt die Identitäts-Hypothese. Sie
wird durch wiederholte Bestätigung graduelle gestärkt und kann - dann defintiv - auch
durch abweichende Beobachtungen als Trugbild, das ein Mit-Sich-Selbst-Identisch-Sein
lediglich vorgaukelte falsifiziert werden (Beispiel für ein Trugbild wäre eine behauptete
Identität als Verschwörung, die sich tatsächlich z. B. als durch die invisible hand
erzeugter homogener Trend und nicht als Ergebnis einer Verschwörung herausstellt).
Diese aus Beobachtungen geschlossene Eigenschaft, wie wir sie nennen besteht aus zweierlei
- aus dem festgestellten Part und aus der stillschweigend mitlaufenden Annahme, dass der
festgestellte Part Ausdruck einer zu Grunde liegenden Gewährleistungsstruktur sei, die die
Abgrenzbarkeit , Identifizierbarkeit und Wiederholungs-Kontinuität des Festgestellten
ermögliche.
Die mitgenutzte Hypothese ist dem zum Ausdruck gebrachten (in Zeichen und Symbolen
festgehaltenen) zuvor Beobachteten unterlegt, und aus dieser Annahme wird darauf
geschlossen, dass das einmal und wiederholte male Festgestellte auch im nächsten und
übernächsten Augenblick mit sich selbst identisch wiederauftreten werde.
Nehmen wir eine Analogie (Analogien sind schlcht, ich weiß..), so ist das in Zeichen und
Symbolen Festgehaltene aus einem Realteil und einem Hypothesen- alias Potential-Teil
bestehend. Der Realteil bestünde aus dem reellen Faktor b und der unterschwellig
mitlaufende Annahme-Teil aus der imaginären Einheit i einer komplexen Zahl b i.
Dank dem als Hypothese gegebenen, aus Vermutungen zu künftigem Verhalten, somit zu einem
Potential bestehenden „Potential"-Anteil jeder behaupteten Identität verhalten sich
zwei oder mehr Identitäten zueinander nicht mehr so, wie sich reelle Zahlen zueinander
verhalten, sondern so, wie sich prozesshafte Verwirklichungen von Potenzialen zueinander
verhalten: sie wachsen entweder zusammen oder bleiben getrennt.
Der „Raum“, in dem mindestens zwei solcher Identitäten enthalten sind (eines der mehreren
Argumente, warum es ein mindestens bipolar geprägter Raum ist: gäbe es nur eine, gäbe es
keinen Beobachter, der die Distinktheit der Identität feststellen oder ausschließen
könnte) ist somit einer, der zugleich Festgestelltes und unterstellte / zu unterstellende
Potentiale „enthält“. Mit seinem sich auf (künftiges) PRozessieren beziehenden Potenzialen
ist er ein Raum mit grundsätzlicher Binnenverweisung von der Gegenwart auf die Zukunft und
damit ein Vorgangsraum, ein Prozessraum.
In diesem Przessraum gibt es entsprechend nicht (nur) Augenblicke und fixierte,
eingekäfigte Volumina (bis hin zu ihrer Schrumpfform, dem jeweiligen Punkt), sondern
Bewegung von im Augenblick festgestellten Volumina. Diese Bewegungen folgen Achsen oder
sind die Verwirklichung von im Potenzial vorgehaltenen Achsen.
Wären die Augenblicks-Einheiten inhaltsleer gecacht, dann wären sie belibig in einem
metrischen Raum / in einem Außenraum zu platzierende Punkte, und ihr Verlauf, ihr
Prozessieren ergäbe eine sequentiell Binnenkontinuität als Punktfolge, die man zu einer
durchgehenden Linie, einem Vektor verschmelzen kann.
Indem aber das Festgestellte zugleich aus einer das Festgestellte begleitenden Vermutung
besteht, hat es einen zu verortenden und einen nicht zu verortenden Anteil, wodurch das
Eingeschlossensein in einem festgehaltenen, fixen, feststehenden Volumen zu Gunsten einer
grundsätzlich nicht-statischen Natur aufgehoben ist. Letztere wiederum nötigt dazu, einen
nicht-metrischen und nicht von selbst und von vornherein als binnenkuntinuierlich
gegebenen Raum zu konzipieren, der aus als distinkt vermutetem Vorgehen, aus Prozessen
„besteht“.
Es ist ein Entfaltungsraum, der nur dann über den einzelnen beobachteten und vermuteten
Prozess hinausgeht, wenn dieser Prozess und (mindestens) ein weiterer Prozess miteinander
in einer beiden Prozessen konforme Interaktion eintreten. Dann entsteht ein
Kooperationsraum als mindestens bi-polarer Interaktionsraum, der wiederum ein doppelsinnig
Identitäts-konformer, somit mit den (mindstens zwei) Kohärenzen in stimmiger Beziehung
vorgehender Prozessraum ist - er ist ein zeitweilig erwirkter Vereinigungsraum, ein
Konvergenzraum.
Alles, was zu den Komponenten der möglichen Vereinigungen hin zu diesem Vereinigungs-Raum
gesagt werden kann ist, dass es mindestens zwei solche Kompenenten sind und dass diese
mindestens zwei Elemente jeweils aus Prinzip nicht leer sind, womit auch das Bild des
Punktes nicht das geeignete ist, sondern das eines zugleich physisch-statisch raumhaft und
physisch-zeitlich distinkt „gefüllten“, sich in die angenommene Zukunft „erstreckenden“,
durch Potenzial-unterlegte Eigenheit und ebensolches Eigensein charakterisierten Innen.
Diesem „Innen“ schreiben wir ein jeweiliges „Volumen“ zu, zu dessen Ausdehnung wir nichts
sagen können ausser, dass es grundsätzlich inhaltlich und damit nicht leer, somit in
Zahlen / Symbolen ausgedrückt ≠ 0 ist.
Mit diesen Bildern („nur“ Bildern, um bei Deinen Worten zu bleiben, lieber Ingo) sind es
zwar in der je eigenen Potentialität verwurzelte Zentren, von denen wir reden, mitsamt
einer Struktur, die von diesem reellen und imaginären Zentrum ausgeht und damit
kugelförmig ausstrahlt - jedoch ist es eine „langgestreckte“ Form, die in der
Vergangenheit und Gegenwart gründet und sich der eigenen und geteilten Zukunft öffnet oder
nicht öffnet, womit sie vergeht.
Diese komischen schlauchförmigen Gebilde als „semantische Volumina“ haben wir zur
Grundlage unseres Zugangs zur sozialen Interaktion gemacht, die somit aus einem efolgenden
oder nicht erfolgenden Konvergieren hin zu semantischen, das heisst sinnhaft
durchstrukturierten, immer fragilen, immer in Änderung befindlichen „Gemeinschaftsräumen“
besteht.
Dieser „komische“ Ansatz hat eine Verwandtschaft zum „agency approach“ in den Worten von
Tom Shakespeare, dem englischen Soziologen, der mir schrieb:
Dear Thomas
I think you are right.
Sociology has two traditions – the structural approach, and the agency approach (from
Weber etc). The former hardly talks about subjects, and it is the approach that most
sociologists adopt. The agency approach does make space for subjects, but from the
outside, not inside.
As you probably also know, the post-structuralist approach – Foucault and so on – has
challenged the idea of the unitary subject, the humanist approach. It makes us suspicious
of whether these feelings and thoughts that the individual has are really to be trusted.
(Wichtig ist hierbei seine Anmerkung, dass auch der Webersche Zugang einer sei, der sich
dem Subjekt (dem ein Innen im Außen-Sein) von Außen nähere. Unser Ansatz versucht, eine
Gleichzeitigkeit von Innen zu thematisieren).
Zurück zum Raum, und damit - endlich… zum Schluss. Dieser Raum besteht grundsätzlich aus
Paaren oder größeren Mengen, er ist ein Zeitraum, indem diese Paare oder größeren Mengen
Prozessmengen sind, er ist „zweigeteilt“ in einen verwirklichten, messbaren, in Zeichen
und Begriffen wiederzugebenden ,in ihnen zu fixierenden Anteil und einen sein in
sequentieller Kohärenz erwartetes Künftiges addressierenden, somit als Hypothese in Form
unterstellter Potenziale gegebenen Anteil. Er „besteht“ nur dann als abzuhebender, wenn
und indem er ein Interaktionsraum ist, und Interaktion meint erfolgreiches
Ko-Prozessieren, beiderseitig stimmige Bezogenheit, beiderseitig stimmige, das heißt dem
eigenen Zusammenhängen korrespondierende, zwingend aus einer, nämlich der eigenen
Perspektive heraus erfolgende Verarbeitung, Deutung, Zuordnung.
Viele Grüße,
Thomas
PS: Verweise auf Mythologien ergeben nur Pseudo-Bestätigungen und sind kein Ersatz für
geforderte gedankliche Stringenz. Aber dass man einen Raum axiomatisch als aus mindestens
zwei Komponenten agierend auffassen kann, ist natürlich ein nicht ganz neuer Gedanke:
Wiki:
Yin und Yang (chinesisch 陰陽 / 阴阳, Pinyin yīn yáng) sind zwei Begriffe der chinesischen
Philosophie, insbesondere des Daoismus. Sie stehen für polar einander entgegengesetzte und
dennoch aufeinander bezogene duale Kräfte oder Prinzipien, die sich nicht bekämpfen,
sondern ergänzen.
„Polar entgegengesetzte…“, „aufeinander bezogene“ (nicht willkürlich als leere Punkte
zufällig-willkürlich nebeneinandergestellte) „Kräfte“ (Kräfte = dynameis, Vermögen,
Potenzen, semantische Energien, die etwas nicht blind, sondern strukturiert und
strukturierend in Gang setzen), „sich ergänzen“ (miteinander etwas Bestimmtes, zum
jeweiligen Pol Passendes anfangen könnend):
Semantische Energie ist somit das, was als richtende und damit „informierende“ Kraft in
einem mindestens bi-polaren, aus mindestens zwei DCP-gestützten grundsätzlich
wesensverschiedenen, je eigen-wesenden Identitäten bestehenden Raum fließt, übertragen
wird, eingeleibt wird.
Am 28.01.2021 um 12:04 schrieb Ingo Tessmann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 27.01.2021 um 02:01 schrieb K. Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Ach ja, Ingo! Zwar habe ich keine Vision von Parthenogenese (und das als Katholik!),
bestenfalls Kenntnis von diesbezüglich antiken Mythen – und …
… ich frage mich, warum die Parthenogenese nicht schon längst biotechnologisch allen
Frauen als frei wählbare Alternative zur Selbstreproduktion ermöglicht worden ist!?
Vermutlich weil wir im Patriarchat leben und keiner der herrschenden Männer ein Interesse
daran hat, Frauen mehr Reproduktonsfreiheit einzuräumen. Bisher sind mir dazu nur
Forschungen mit Mäusen aus Japan bekannt geworden.
PS: Sloterdijks Sphären-Trilogie kenne ich nur
vom „Hörensagen“; was das Volumen dieses Buches anbelangt gilt also: nomen est omen. Gibt
es eine Zusammenfassung dieses gigantischen Werks?
Nur ein paar all zu kurze Übersichten in verschiedenen Kontexten habe ich gefunden. Falls
Du nicht schon selbst fündig geworden sein solltest, findet sich hier zum Auftakt ein
Interview mit dem Autor:
https://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,27,1,0.html?tk=1
<https://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,27,1,0.html?tk=1>
Im Anschluss an Heideggers „Sein und Zeit“ wird Sloterdijks Sphärenphilosophie auch als
„Sein und Raum“ kommentiert:
https://gh.copernicus.org/articles/73/261/2018/gh-73-261-2018.pdf
<https://gh.copernicus.org/articles/73/261/2018/gh-73-261-2018.pdf>
Es grüßt,
Ingo
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