Sehr geehrte Leserinnen und Leser der Phil-Liste,
Liebe Mitschreiber beiderlei Geschlechts,
ich habe mir in den letzten Tagen einige Gedanken gemacht und versuche
diese, mal wieder, hier zu verbreiten, um damit eine Kritik zu
ermöglichen. Auch möchte ich damit mein Gehirn zwingen, eine möglichst
logische Ordnung zu finden.
Folgender Ausgangspunkt der Überlegung
Die Gründerväter der Vereinigten Staaten haben bekanntlich eine
Konferenz abgehalten. Am Ende dieser Konferenz stand eine neue,
ausgearbeitete Verfassung, die im Wesentlichen bis heute ihre
Gültigkeit hat.
Das Problem ist jetzt, dass erstens die Leute, die die Gründerväter
auf den Weg geschickt haben, gar nicht beabsichtigten eine neue
Verfassung auszuarbeiten. Sie waren unter Umständen mit der alten
Konförderationsverfassung vollständig zufrieden. Zweitens enthält der
7 Artikel der Verfassung eine Regel, die festlegt, wann die neue
Verfassung in Kraft tritt.
Grade das hat meinen Geist gefesselt, denn hier regelt ein Gesetz die
Kriterien seines Inkrafttretens selbst.
Versetzten wir uns einmal ein die Lage so eines Abgeordneten,
gleichgültig ob amerikanisch oder französisch: Wir wurden durch das
Volk (oder durch weitere Parlamente) gewählt, um gewisse spezifische
Fragen zu beantworten. In Frankreich ging es um Steuern, in den USA
soweit ich weiß um Zollfragen. Das Volk hat uns in diesem Falle
letztlich gewählt, um vor dem König (oder unter den einzelnen Staaten)
seine Interessen betreffend dieser einen Frage zu vertreten. Niemand,
der uns gewählt hat, hätte zu diesem Zeitpunkt ahnen können, dass wir
uns zusammensetzen, um eine neue Verfassung zu entwerfen.
Folglich, streng genommen, sind wir zu dieser Handlung selbst
eigentlich nicht demokratische legitimiert. Natürlich könnte man das
Problem lösen, indem man eine Volksabstimmung fordert mit der Frage
"Soll der Konvent eine neue Verfassung ausarbeiten? Ja oder Nein?"
Es stellt sich hierbei nur die Frage: Impliziert eine solche
Volksabstimmung nicht breits eine Form der Demokratie? Schließlich
wurden dabei eine Reihe von heiklen Entscheidungen schon
vorweggenommen. Wer darf abstimmen, wer gehört in dem Sinne zum Demos?
Dürfen Strafgefangene abstimmen? Leute, die wegen Schulden in
Beugehaft sich befinden? Frauen oder Sklaven? Für die Abgeordneten des
Ballhauses in Frankreich und den US-Gründervätern scheint es offenbar
kein Problem gewesen zu sein, Sklaven und Frauen von der Wahl
kategorisch auszuschließen. Dabei mussten auch diese Gruppen unter den
Entscheidungen leiden.
Auch der Modus, in dem ein solcher Konvent gewählt wird, hat
Auswirkungen. Ein Majorzwahlrecht mit Ein-Mandats-Wahlkreisen führt zu
einer anderen Zusammensetzung des Konvents als eine Listenwahl oder
eine Wahl nach Präferenz, wie wir es zum Teil bei Wikipedia bestaunen
dürfen. Man könnte theoretisch auch fragen, wieso es keine Quoten für
bestimmte Gruppen geben sollte, seien es geographische oder sonstige
oder warum nicht einige Abgeordnete auch ausgelost werden sollten.
Auch stellt sich hier eine nicht von vornherein illegitime Frage:
"Wieso dürfen die Wähler zum Zeitpunkt X einen neuen
Verfassungskonvent wählen, spätere Wähler aber nur eine Legislative
oder ein Parlament und dergleichen? Warum darf diese Versammlung
Gesetze mit Verfassungsrang verabschieden, spätere müssen sich aber an
die Regeln dieser Versammlung halten?"
Es erscheint in der Tat willkürlich, wieso z. B. im Falle der USA die
Gründerväter eine Verfassung verabschieden konnten, spätere
Generationen aber nur noch im Rahmen dieser Verfassung politisch
agieren sollten. Selbst eine Art permanente Verfassungsentwicklung,
wie es teilweise im Vereinigten Königreich der Fall ist, ist keine
Antwort auf die Frage. Denn dort gibt es einen de facto Ist-Zustand,
der auf vorangegangenen Konventionen basiert. Es gibt hier zwar keinen
privilegierten Zeitpunkt X, aber dennoch eine Reihe von
Entscheidungen, die von ganz anderen Leuten im anderen Zusammenhang
getroffen wurden.
Das Problem scheint mir mit einem Satz zu lauten: Man kann die
Ausgangsbedingungen einer Demokratie nicht seinerseits demokratisch
legitimieren. Am Anfang jeder Demokratie muss eine Art diktatorischer
oder revolutionärer Akt stehen, in welchen ein Verfassungsgeber, "Rat
der Weisen" oder ein hobbesianischer Friedensverhandlung sich selbst
legitimiert.
Die Juristen (Staatsrecht) haben sich ebenfalls mit diesem Problem
befasst und sind zum Konzept der "Volkssouveränität" gelangt. Nach
diesem Konzept ist das Volk "souverän" also auch über dem Gesetz
stehend.
Mit dieser souveränen Kraft kann das Volk dann auch jederzeit eine
Verfassung absetzen oder eine neue bestimmen. Das Konzept mag aus
juristischer Sicht passend sein (die Juristen haben damit wohl
Bauchschmerzen, sagt das Internet), aber das philosophischer Sicht
bleiben fragen offen:
- Wieso liegt die Souveränität grade beim Volk? Könnte man sich nicht
vorstellen, diese Souveränität etwa beim Parlament liegt (wie in
England vielleicht) oder irgendwer sonst? Wieso sollte überhaupt
jemand über den Gesetz stehen können?
- Wieso sollte es so etwas wie einen Souverän überhaupt geben?
- Auch ist die Lehre lückenhaft. Was ist mit der Wahl, wie setzt sich
der Konvent zusammen und wann entscheidet er, Konvent zu sein? Es gibt
keine schlüssige Antwort, die sich aus dem Konzept der Souveränität
des Volkes ergibt.
Was denkt ihr soweit? Ist meine Schlussfolgerung (Demokratie beginnt
quasi als Revolution) korrekt? Oder habe ich etwas übersehen, was mich
widerlegt?
Gruß in die Runde,
Ratfragender.