Am 28.11.2021 um 12:18 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Hallo,
also ich arbeite mich zurzeit eher träge und abgelenkt, wie ich selbst
zugebe, durch ein Paper, auf welches mich Ingo dankenswerterweise
hinwiese.
Es handelt sich um eine Habilitation (das ist so eine Art Dissertation
für Professoren ;-) über Kausaltheorie. Der Text ist umfangreich und
enthält z. T. Dinge, die nicht unbedingt zu unserer Diskussion
gehören, wie ich finde. Dennoch werde ich, sobald ich ihn durch habe,
eine Antwort verfassen. Die Qualität wird wie immer relativ
bescheiden, das weiß ich.
Der Streit zwischen dir und Waldemar scheint mir, soweit ich es
überblicke, der uralte Streit zwischen Gläubigen und Atheist zu sein.
Nun, als
Streit würde ich diese fortwährende Auseinandersetzung nicht
werten wollen. Es mag seltsam anmuten wenn ich sage, für einen
wirklichen Streit sind Waldemar und ich im Kern unserer Weltsichten zu
ähnlich. Wir sind beide - sofern ich es zutreffend einschätze –
Idealisten. Man könnte fast sagen, also solche auf die Welt gekommen.
Aber wie es so mit diesen „isten“ so läuft, werden landläufig darunter
Zuschreibungen vorgenommen, die Menschen ihrer Wesensart entsprechend
kategorisieren und damit erfolgt zumeist eine unzulängliche
Beschränkung auf die jeweiligen Muster dieser Kategorien; diesem wollte
von Foerster (wie ich ihn zuletzt hier zitierte) entgehen und somit
nicht als Konstruktivist gelten, nahm daher für sich dieses „Ani-Ist“ in
Anspruch.
Umgangssprachlich werden eingeführte Begriffe (wie so oft) ambivalent
bewertet und so auch der des Idealismus.
Als Idealisten werden zumeist Menschen mit fehlendem oder wenig
ausgeprägten Realitätsbezug gesehen und tatsächlich sind es Menschen,
die davon überzeugt sind, dass Lebenswirklichkeit auf Ideen und Ideellem
gründen; sie möchten diesen Idealen folgen und vor allem die Welt ideal
gestalten sowie auch unbedingt ihren Anteil dazu beitragen.
Charakterlich sind sie eher altruistisch, bisweilen selbstlos
eingestellt und sehen sich damit in hohem Maß der Gesellschaft verpflichtet.
Solchermaßen in die Welt gesetzt und zunächst ggf. durch entsprechende
Sozialisierung verstärkt, wird jedoch beizeiten erkannt, dass die
Menschen dieser Lebenswelt in Teilen eben nicht den Ideen (als die
Wurzel des Idealismus) von Ethik und Moral genügen können, somit nicht
den Idealen von gesellschaftlich breit angelegtem Altruismus,
Sozialverträglichkeit etc. folgen - und übler noch: sich an diesen
Idealen bewusst vergehen.
Diese Desillusionierung hat Konsequenzen, insofern sich daraus entweder
ein auf die tatsächliche Lebenswelt bezogenes, realistisches oder ein
gänzlich dem Idealismus entgegengesetztes Weltbild (Positivismus,
Materialismus, Naturalismus) ausformt. Die Enttäuschung über Mensch und
Welt führt zu innerer Verletzung, bisweilen hin zu Dissoziation und
zwangsweise zum Kollaps ursprünglich angelegter Idealvorstellungen und
einer daraus geformten Weltanschauung.
Demzufolge spiegelt sich dies in Ausdrucksformen vorgeblich strikter
Ablehnung von Idealen (sprich: Ideen, Plan- und Zielgerichtetheit,
Sinnhaftigkeit, Lebenswille), von Misanthropie, Fatalismus und der
rigorosen Reduktion der Lebenswelt auf lediglich deren Bausteine (das
versuchte ich zuletzt mit meinem Beispiel von den Legosteinen zu
verdeutlichen: ein kunstvoll geformtes Ensemble als Ausdruck von Ideen
und nicht als sinnfreie Anhäufung elementarer Bausteine).
Es ist also nicht vordergründig die Auseinandersetzung zwischen einem
Atheisten und einem Gläubigen, die sich hier über einen geraumen
Zeitraum entwickelt hat, sondern zwischen zwei ursächlich idealistisch
angelegten Charakteren, deren Lebenswege sich offenbar sehr
unterschiedlich entwickelt haben.
In einer Lebenspartnerschaft würden derart gegeneinanderstehende
Weltbilder ebenso zum Kollaps dieser Beziehung oder zur Ausprägung einer
pathologisch-psychischer Problematik führen; schlicht gesagt:
fortwährendes Schlechtreden der Welt zermürbt jeden optimistisch
angelegten Lebenswillen.
Ein weiteres Problem dabei scheint mir darin zu bestehen, dass Waldemar
eben kein genuin angelegter Atheist und ich kein Gläubiger im Sinne der
üblichen Definition bin und damit wird es schwer, weltanschaulich
differenziert zu argumentieren; und eigentlich geht es gar nicht um
Atheismus oder Glauben, wie ich dies oben zu erläutern versuchte.
Darauf (und auf weitere Deiner Fragen) möchte ich demnächst hier eingehen.
Soweit für den Augenblick.
Mit bestem Gruß! - Karl
PS: Übrigens habe ich nicht dem Waldemar nahegelegt, mich nicht mehr in
diesem Forum anzusprechen, sondern diesem seltsamen „Onkel Waldi“; zu
letzterem würde man in heutigem Sprachgebrauch sagen: „was hat der denn
geraucht!?“
Von einem abstrakten, also "philosophischen"
Standpunkt aus stellte
sich diese Frage im Prinzip schon im Altertum. Nur scheint es damals
so etwas wie direkten Atheismus nicht gegeben zu haben. Konkret ist
der Streit tatsächlich auf das 18. Jahrhundert in Europa
zurückzuführen und neuerlich eskaliert durch 09/11. Das Ereignis, das
vor einigen Wochen und genau 20 Jahren stattfand, wurde explizit und
unmissverständlich durch die Urheber religiös begründet.
Das hat dann bei manchen Atheisten zur Überzeugung geführt, man würde
eine utopische oder zumindest bessere Gesellschaft erreichen, wenn nur
die lästige Religion nicht wäre. Der Eindruck wird noch verstärkt
durch den Meinungsstreit zwischen den religiösen Rechten und den
säkularen Meinungsspektrum in den USA, der ja grundsätzlich bis heute
weitergeht.
Das alles hat sich inzwischen verästelt und zerfasert. Wie immer bei
einer neuen Bewegung, die ihre Grundsätze erst zu formulieren sucht.
Da scheiden sich dann bald die wahren von den echten und den
eigentlichen Anhängern. Stichwort wäre "Brights", Dawkins und so fort.
Wie zu erwarten entdeckt man schnell, dass man weniger Gemeinsamkeiten
hat, als man vielleicht glaubt, zumal das Glaubensbekenntnis rein
negativ ist. Man ist sich einig, an was man nicht glaubt, was man aber
tatsächlich für richtig annimmt, da ist man sich nicht sicher. Das
Bestehen darauf, nur an "gesicherten Wissen" festzuhalten macht den
Streit nur schärfer.
Ich nehme an, wenn man das Ganze philosophisch analysiert, erhält man
eine enorme Tiefe der Gabelungen: Gott Ja/Nein, Entscheidbarkeit
dieser Frage Ja/Nein, falls ja ist die entschieden ja/nein, falls nein
kann sie praktisch entschieden werden... Falls sie entschieden ist,
auf welchen Wege...
Auf dem anderen Ast dann: "Kommt Moral von Gott?" Ja/Nein, falls nein,
woher dann und dann haben wir das ganze Spektrum der Moralphilosophie
eröffnet. Es scheint nun, dass jemand, der glaubt, dass alle Moral
sich von Gott herleitet, fast automatisch Gläubiger sein muss. Dem ist
aber in der Praxis nicht so. Beispielsweise kann man Nietzsche in
diese Richtung interpretieren oder es gibt so etwas wie eine
"Gott-ist-tot"-Theologie in verschiedenen Formen. Das lässt sich
hervorragend mit einer Irrtumstheorie der Moral verbinden. Wir haben
bisher fälschlich geglaubt, dass "Es ist gut, dass X" etwas über die
Welt ausdrückt, in Wahrheit ist das aber nur der Rest einer
natürlichen Theologie, welcher die Gesetzgebung Gottes aus der Natur
herleiten will.
Da es diese Gesetzgebung aber nicht gilt, folgt zwingend, dass man
auch keine Wahrheit hinter Sollsätze finden kann.
Der Philosoph aus obigen Beispiel stellt sich bin, nimmt jede nicht
zwingend logische Annahme und fragt bei ihr "Ist das richtig, Ja oder
nein?". Am Ende hat man zwar eine sehr differenzierte Analyse aller
denkbaren Positionen, doch beschleicht einen der Verdacht, dass es
viele außerhalb des akademischen Rahmens gar nicht gibt.
Wichtig ist schon mal festzustellen, dass es viele Atheisten,
Freidenker oder "Heiden" mit hervorragender Moral gibt. Sofern man den
Glauben nicht einfach selbst als höchste Tugend nimmt, den die alle
nicht haben.
Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass eine christliche
Grundposition bestimmte weltanschauliche Optionen einfach ausschließt,
wegen Gottesebenbildlichkeit usw.
Es tut mir leid, dieses Beispiel bringen zu müssen, aber... Es scheint
mir nicht aus dem bloßen christlichen Kredo zu folgen, ab wann ein
Fötus "Mensch" wird oder welches Wirtschaftssystem eine Gesellschaft
präferieren sollte.
Der Streit zwischen Atheisten und Gläubigen ist letztlich in der
Philosophie durchaus gut aufgehoben, jedenfalls besser als vor Gericht
oder vor schlimmeren Orten. Nur sollte man sich bewusst sein, dass
sowohl Gläubige als auch Atheisten zur Wissenschaft und Philosophie
beigetragen haben.
Gödel, Wittgenstein oder Kripke beispielsweise glaubten an einen Gott,
dagegen Russell und viele andere nicht.
Das selbe gilt vom Bereich der Kunst, gilt selbst für triviale
Beispiele aus dem alltäglichen leben.
Mit freundlichen Gruß
der, wie immer Ratlose.
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